Russland findet sein Gedächtnis wieder
9. April 2014Zu meiner Schande muss ich gestehen: Ich bin in Moskau in der Nähe der Metrostation "Sokol" aufgewachsen und wusste bis vor Kurzem nicht, dass dieser Ort für viele Russen, die Angehörige im Ersten Weltkrieg verloren hatten, einmal heilig war. Im Park, wo unser Spielplatz gewesen ist, wo wir Schlitten und Ski gefahren sind, wo wir uns mit Jungs verabredet haben, war einmal ein Ehrenfriedhof. Hier lagen einst tausende Soldaten und Offiziere, Krankenschwestern und Militärärzte begraben.
Bis 1917 hatten hier mehr als 18 Tausend Menschen ihre letzte Ruhe gefunden. 1918 war noch eine kleine Kathedrale eingeweiht worden. Doch bereits kurz darauf ließen die Bolschewiki sie sprengen und machten den Friedhof dem Erdboden gleich. Nichts sollte den neuen Sowjetbürger mehr an den "kriegerischen Imperialismus" erinnern. Anstelle der ruhmlosen "Vergangenheit" kam die glorreiche "Zukunft" - in Form eines Vergnügungsparks samt Schießbude, Kinderspielplatz, Brunnen und Kino.
Der vergessene Krieg
An den Ersten Weltkrieg sollte zu Zeiten der Sowjetunion bewusst kaum erinnert werden. Schließlich hatte Lenin diesen Krieg als "imperialistisch", "zaristisch" und "volksfeindlich" bezeichnet. Der Krieg störte den Blick auf den heldenhaften Sieg der sozialistischen Weltrevolution. Später – nicht minder wichtig – überdeckten die Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs all die verbliebenen Erinnerungen an den Ersten.
Erst Mitte der 1980er Jahre wurde der Erste Weltkrieg wieder zu einem Thema - als Michail Gorbatschow an die Macht kam und mit seiner Umgestaltung – russisch: "Perestroika" - des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens begann.
Der unerwartete Wind der Veränderungen brachte das kollektive Gedächtnis ins Schwanken. Nun durfte man sich an alles erinnern, was man, der kommunistischen Partei folgend, zuvor hatte vergessen sollen. So wurde auf einmal an die Opfer von Stalins Gulag, an den großen Hunger der 1930er Jahre – und auch an die Helden des Ersten Weltkriegs erinnert. Und so wurde Ende der 1980er Jahre auch in jenem Park meiner Kindheit neben der Moskauer Metrostation "Sokol" ein hölzernes Großkreuz errichtet – im Gedenken an die Opfer des Ersten Weltkriegs.
Historiker, die aktuelle Fragen stellen
Der Friedhof ist nur ein Beispiel des Verdrängens der Erinnerung. In Büchern beispielsweise, sei der Krieg als bloße Kulisse erschienen, als "gigantischer Beschleuniger der Revolution", sagt Irina Zhurawskaja vom Staatlichen Historischen Museum Moskau gegenüber der DW. Auch in der Forschung sei der Krieg in der Sowjetunion kaum aufgearbeitet worden. Erst in den letzten Jahren habe man in Russland angefangen, Bücher über den Ersten Weltkrieg zu publizieren. "Dies ist der Weg zu einer Rückgewinnung unseres historischen Gedächtnisses", meint Zhurawskaja.
Eines dieser neuen Bücher hat Anatoli Utkin geschrieben ("Der Erste Weltkrieg", 2013). Der anerkannte russische Historiker ist von einem überzeugt: Russland hatte 1914 die Reifeprüfung nicht bestanden. Ein gemeinsamer Sieg an der Seite der Entente hätte Russland an Europa gebunden, so die Argumentation Utkins. "Zusammen mit Frankreich und Großbritannien hätte Russland die europäische Entwicklung bestimmen können." Das frühzeitige Ausscheiden Russlands aus dem Krieg, der so genannte Separatfrieden 1917 mit Deutschland, habe der kleinen Schicht europäisch orientierter Russen die Macht genommen. Ans Licht seien jene Massen gekommen, für die der Westen und seine Werte nie was bedeutet haben. Diese Menschen, so Utkin, hätten Europa mit einem Gegenstand assoziiert: mit einem deutschen Maschinengewehr, das massenweise Russen erschossen habe. Und so sei es eben nie zu einer Union zwischen Russland und Europa gekommen. "Russland hat 1914 den Anschluss an Europa verpasst", meint der Historiker. "Und wer weiß, ob eine neue Chance je kommen wird."
Dieses Buch ist heute aktueller denn je: auf Russlands Übernahme der Krim und der angespannten Lage in der Ukraine folgten EU-Sanktionen gegenüber Moskau und der Ausschluss aus den G8. Russland ist wieder weit von einem Anschluss an Europa entfernt.
Gedenken im Museum – und im Kino
Der Kriegsausbruch vor 100 Jahren ist in Russland Anlass für eine ganze Reihe an Gedenkveranstaltungen, offizieller und inoffizieller Art. Der Film "Todesbataillon" beispielsweise wird wohl ein Highlight des kommenden Kinosommers in Russland werden. In diesem Streifen geht es um ein real existierendes Frauenbataillon der russischen Armee, das die kriegsmüden Männer an der Front zu neuen Heldentaten anstacheln sollte. Der teure Film wurde zum größten Teil vom Staat finanziert. Die Weltpremiere ist für den 1. August vorgesehen – der Tag, an dem der deutsche Kaiser Wilhelm II 1914 den Mobilmachungsbefehl gegeben und Russland den Krieg erklärt hatte.
Auch das Museum des Ersten Weltkriegs in der Stadt Puschkin feiert am 1. August dieses Jahres seine Wiedereröffnung. Und das Staatliche Historische Museum in Moskau will im Sommer gleich zwei Kriegsausstellungen zeigen.
Seit dem 1. August 2013 gibt es in Russland einen offiziellen Gedenktag an die Opfer des Ersten Weltkriegs. Russland versucht die Bruchteile der Geschichte zusammenzuflicken. In einem Land, wo die Geschichte immer ideologisch geprägt war, wird dies nicht leicht werden. Und es wird bestimmt nicht schnell gehen. Doch eines kann man bereits jetzt feststellen: das Interesse ist da, die Erinnerungen kommen wieder.
Im Park meiner Kindheit wurde zum letzten großen Gedenken, am 1. August 2004, pünktlich zum 90. Jahrestag des Kriegsbeginns, ein großes Mahnmal eingeweiht. Erst in diesem Jahr habe ich es entdeckt…