Missverstanden: Bruce Springsteens "Born in the U.S.A."
14. Juni 2024Die Chancen stehen gut, dass jeder, der auch nur einen Funken Musik in sich trägt, mit dem Kopf wippt, wenn er das dröhnende Intro von Bruce Springsteens Hit "Born in the U.S.A." von 1984 hört. Und wahrscheinlich singt man den mitreißenden Refrain mit Begeisterung mit - selbst wenn man nicht in den USA geboren bist. Kein Wunder also, dass selbst amerikanische Politiker, die nicht auf Springsteens politischer Linie liegen, versucht haben, aus dem mitreißenden Appell bei Wahlveranstaltungen Kapital zu schlagen. Aber dazu später mehr.
Auf der musikalischen Landkarte
Das am 4. Juni 1984 veröffentlichte, siebte Album von Bruce Springsteen, "Born in the U.S.A.", stellte mit sieben aufeinanderfolgenden Top-10-Hits in den USA den Rekord von Michael Jacksons "Thriller" ein und katapultierte ihn vom beliebten Rocksänger in den USA in den Rang eines globalen Megastars.
Zu den weiteren Hits des Albums gehörten - neben dem gleichnamigen Titelstück - "No Surrender", "Glory Days" und das mit einem Grammy ausgezeichnete "Dancing in the Dark", in dessen Musikvideo die damals noch unbekannte Courteney Cox aus "Friends" zu sehen war.
Die Songs des Albums erzählen vom Leben der Arbeiterklasse in der Ära von US-Präsident Ronald Reagan (1911-2004), was bei Springsteens amerikanischen Fans besonders gut ankam. Das Album wurde 1985 mit einem Grammy für das "Album des Jahres" ausgezeichnet.
Sony Music feiert den 40. Jahrestag des Albums nun mit einer Sonderedition, die am 14. Juni mit neuem, farbigem Vinyl und einer erweiterten Verpackung erscheint.
Passende politische Tropen?
Schon das ikonische Titelbild, aufgenommen von der berühmten amerikanischen Porträtfotografin Anni Leibovitz, erregte seinerzeit Aufsehen. Denn es zeigte Bruce Springsteens, in Jeans gehüllten Hintern, den der Sänger dem Betrachter zuwendet. Gegenüber dem Magazin "Rolling Stone" erklärte Springsteen diese gestalterische Entscheidung so: "Das Bild von meinem Hintern sah einfach besser aus als das von meinem Gesicht."
Und dann war da noch das Titellied mit seinem hymnischen Refrain. Der in New Jersey geborene Springsteen, selbst in der Arbeiterklasse verwurzelt, sollte später zu Protokoll geben, dass sich "Born in the U.S.A." als "eines meiner größten und am meisten missverstandenen Musikstücke" erwiesen habe.
Amerika feiern oder aktivieren?
Das Lied ist im Wesentlichen ein Protestsong. Er erzählt von der wirtschaftlichen Not der Vietnamkriegsveteranen, deren Dienst an der Nation zugleich verherrlicht wird.
Das Lied geht zumindest teilweise zurück auf Ron Kovics 1976 erschienene Autobiographie "Born on the Fourth of July". Diese handelt von einem jungen Mann, der sich Ende der 1960er Jahre freiwillig für den Vietnamkrieg meldet, dann aber gelähmt zurückkehrt und schließlich zum Antikriegsaktivisten wird.
Regisseur Oliver Stone verfilmte das Sujet mit Tom Cruise in der Hauptrolle, der Antikriegsfilm kam 1989 in die Kinos. Springsteens Song handelt von einem unzufriedenen Vietnamveteranen, der von seinem Land verschlungen und ausgespuckt wurde. "Aber der Typ in dem Song macht auch seine amerikanische Staatsbürgerschaft geltend", erklärt Steven Hyden, Autor von "There Was Nothing You Could Do: Bruce Springsteen's 'Born in the U.S.A.' and the End of the Heartland", in einem Interview mit der Popkultur-Website "The Ringer". "Er verleugnet Amerika nicht. Er sagt nicht: 'Ich verlasse die USA', er sagt: 'Ich wurde in den USA geboren'", fügt Hyden hinzu.
"Meine Musik war ein Football"
Trotz Springsteens eindringlichen Texten, die den "amerikanischen Traum" in Frage stellten, sahen einige - auch konservative Politiker - den Refrain durch eine verengte, nationalistische Brille. Ronald Reagan verwendete ihn während seiner Wiederwahlkampagne 1984, und Donald Trumps Anhänger spielten ihn vor dem Krankenhaus, in dem er 2020 wegen COVID behandelt wurde.
Springsteen wandte sich im Laufe der Jahre gegen die unerlaubte Verwendung des Liedes durch Politiker – ob von Republikanern oder von Demokraten. Im Jahr 2005 sagte er dem National Public Radio (NPR): "Meine Musik war ein Football für Leute von ganz links bis ganz rechts, die uns falsch dargestellt haben. Das ist etwas, womit ich lebe. Aber: Ich kann immer auf die Bühne gehen und meine Meinung sagen."
Seine Meinung über Trump hat Springsteen inzwischen deutlich zum Ausdruck gebracht: "Leider haben wir jemanden, bei dem ich das Gefühl habe, dass er die tiefere Bedeutung dessen, was es bedeutet, ein Amerikaner zu sein, nicht versteht", sagte Springsteen 2019 in einem Interview mit Gayle King für "CBS This Morning".
Bei einer Kundgebung im Mai dieses Jahres bezeichnete Trump den Musiker als "verrückten" Liberalen und fügte hinzu: "Wir haben ein viel größeres Publikum als Bruce Springsteen."
Springsteen positioniert sich politisch
"Springsteen hat seinen amerikanischen Traum zum Thema seiner Musik gemacht: eine Nation, die Einwanderer willkommen heißt, Rassismus verurteilt und gegen wirtschaftliche Ungleichheit kämpft. Die Menschen halten zusammen, auch - oder gerade - inmitten von Tragödien", schrieb Diane Winston, Professorin für Journalismus und Kommunikation an der USC Annenberg, in der Zeitung "Rhode Island Current". Sie fügte hinzu, dass Springsteen, bevor er von Reagan zitiert wurde, sich damit begnügte, seine Politik in seiner Musik auszudrücken. Später wurde er offener: So unterstützte er die Demokraten John Kerry (2004), Barack Obama (2008 und 2012), Hillary Clinton (2016) und die Biden-Kampagne 2020, für die er den Song "My Hometown" neu arrangierte.
Inzwischen hat sich "Born in the U.S.A." weiterentwickelt, und Springsteen hat auch zurückhaltendere Versionen mit nur einer Akustikgitarre gespielt. Manchmal singt er - ohne den mitreißenden Refrain - nur die Strophen, damit das Publikum seinen sozialen Kommentar zur Notlage der Veteranen besser verstehen kann. NPR berichtete 2019, dass Springsteen, als sich die US-Invasion im Irak 2003 abzeichnete, seinem Publikum sagte, das Lied sei ein "Gebet für den Frieden".
In seiner Show "Springsteen on Broadway" in New York City zwischen 2017 und 2018 erhielt das Lied ein bluesigeres Intro. Danach setzte Springsteens unverwechselbare, raue Stimme ein. Ohne Begleitung erzählte er die Strophen und den berühmten Refrain beinahe. Der unermüdliche 74-Jährige befindet sich derzeit mit der E Street Band auf dem europäischen Teil ihrer Welttournee. Laut Spotify steht auch sein Dauerbrenner von 1984 auf der Setlist.
Aus dem Englischen adaptiert von Stefan Dege.