Der starke Stein im Europa-Haus bröckelt
3. Oktober 200515 Jahre nach der Deutschen Einheit ist auch die Europäische Wiedervereinigung fast gelungen. Im Jahr 2004 nahm die Union acht osteuropäische Staaten sowie Malta und Zypern auf. Beide Vorgänge waren zwei Seiten derselben Medaille, heißt es heute bei der EU in Brüssel. Der luxemburgische Premierminister Jean Claude Juncker hat es so ausgedrückt: "Vor 1989 war die Rückwand des europäischen Hauses die Berliner Mauer. Als die wegbrach, musste sich die EU etwas Neues ausdenken und nicht nur die DDR, sondern auch die anderen ehemaligen kommunistischen Staaten aufnehmen."
"In der Rückschau gab es keine Alternative zum Zusammenwachsen Deutschlands und Europas", betont heute der deutsche Außenminister Joschka Fischer. Anfängliche Vorbehalte gegen die Wiedervereinigung hegen britische und französische Diplomaten nicht mehr. Die deutsche Regierung hat in den 1990er-Jahren bewiesen, dass sie ein engagierter Fürsprecher der europäischen Integration blieb und keinen deutschen Sonderweg nach der Vereinigung einschlug. Parallel zur Wiedervereinigung stimmte Deutschland der Wirtschafts- und Währungsunion in Europa und der politischen Union zu, wie sie im Vertrag von Maastricht im Jahr 1993 besiegelt wurde.
Schwächelnder Partner
Sorge bereitet aus Brüsseler Sicht heute nicht das größer gewordene politische Gewicht des vereinigten und einwohnerstärksten EU-Landes. Besorgniserregend ist viel mehr die tiefe strukturelle Krise in Bezug auf die Wirtschaft und Sozialsysteme, die sich auf die gesamte EU auswirkt. Denn schwächelt die deutsche Konjunktur und wächst das Defizit, drückt das auf die Wirtschaftsleistung ganz Europas. Dass dies zum Teil eine Folge der deutschen Einheit ist, hat EU-Währungskommissar Joaquin Almunia erkannt. Im reformierten Wachstums- und Stabilitätspakt der EU darf der deutsche Finanzminister die Sonderlasten aus der Wiedervereinigung jetzt als mildernde Umstände bei der Defizitbeurteilung geltend machen. Finanziell hat sich die Einheit auch auf die EU ausgewirkt. Deutschland muss mehr interne Transferleistungen finanzieren und hat deshalb seine Nettozahlungen nach Brüssel seit Mitte der 1990er-Jahre halbiert.
Die durch den Fall der Mauer ausgelöste, weiter gefasste Wiedervereinigung Europas hat die
Kräfteverhältnisse innerhalb der EU verschoben. Der Schwerpunkt der Union hat sich weiter nach Osten verlagert. Das deutsch-französische Führungstandem ist nicht mehr so wichtig, der deutsch-französische Anspruch auf Führung wird offen in Frage gestellt.
Die Krise, in der die EU nach gescheiterter Verfassung und geplatzten Haushaltsberatungen jetzt steckt, verschärft das Dilemma. Die Verfassung, das letzte große gemeinsame politische Projekt, durch das die europäischen Staatsmänner sich profilieren wollten und das vor allem vom deutschen Außenminister gefördert wurde, ist abhanden gekommen. Die EU sucht nach einer neuen Führungsstruktur, die auch das größte Mitgliedsland, das wiedervereinigte Deutschland, nicht bieten kann.
Reformunlust und leere Kassen
In den letzten Jahren hat sich das Land für die Beobachter in Brüssel vom Mustereuropäer eher zu einem Bremser entwickelt, der wie Frankreich und Großbritannien oft auf nationale Interessen pocht. So konzentriert sich die relativ schwache EU-Kommission in Brüssel derzeit darauf, die gemeinsame Wirtschaftspolitik unter dem Siegel "Lissabon-Prozess" wieder flott zu machen. Doch angesichts der unsicheren politischen Zukunft in Deutschland, der wachsenden Haushaltslöcher und der Reformunlust der Deutschen sieht es da wohl eher düster aus.
Bedenklich finden viele EU-Beamte und Europaabgeordnete, dass sich in Deutschland eine Europa-Unlust breit macht. Die werde, so kritisiert etwa der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Elmar Brok (CDU), durch die Bundesregierung noch geschürt. Sie profiliere sich gerne im Inland durch den vermeintlich heroischen Kampf gegen die angeblichen Überregulierer in Brüssel. Diese Verbrüderung von Stammtisch und nationalen Regierungen in Bezug auf Brüssel ist aber nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Mitgliedsstaaten zu beobachten. Das führt regelmäßig zu niedriger Wahlbeteiligung bei den Europawahlen und einem Erstarken der europafeindlichen Kräfte.