Zwischen Angst und Aufbruch
Bereits jetzt lassen große Berliner Hotels ihre Bettlaken und Handtücher in Polen waschen. Ein paar Dutzend Kilometer weiter Richtung Osten bieten polnische Wäschereien den Service deutlich billiger an als ihre Konkurrenten in Hamburg. Andererseits haben sich zahlreiche deutsche Firmen in Mittel- und Osteuropa niedergelassen: Sie produzieren Berufskleidung in Litauen, Autoteile in Tschechien oder sorgen in Ungarn für die Installation aufwändiger Umwelttechnik.
Mit der Erweiterung der EU nach Osten wird dies in Zukunft (noch) einfacher werden. Erhöhte Rechtssicherheit, ein leichterer Austausch von Arbeitskräften über die Ländergrenzen hinweg und vor allem eine drastisch vereinfachte Zollabwicklung sollen Investitionen zwischen Budapest, Warschau und Riga erleichtern. So ist etwa Werner-Wolfgang Spitze, Obermeister der Bau-Innung Hamburg, überzeugt, dass "allein der Druck hoher Energiekosten zu erheblichen Investitionen im Bereich energiesparender Neubauten führen" werde.
Zahlreiche Chancen für die deutschen Mittelständler
Auch wenn einige der mittel- und osteuropäischen Länder im Umweltbereich mit langen Übergangsfristen bei der Anpassung an EU-Normen rechnen können, geht kein Weg daran vorbei: Die Kläranlagen müssen sauberer, Kraftwerke schadstoffärmer und Schlachthöfe hygienischer werden. Das könnte volle Auftragsbücher für viele deutsche Mittelständler aus dem Umwelt- und Gesundheitsbereich bringen.
Bereits jetzt sei der deutsche Handel mit den Beitrittsländern stark mittelständisch geprägt, berichtet Ulrich Dietsch, Geschäftsführer des Ost- und Mitteleuropa Vereins: "Unserer Einschätzung nach dürften von den 54,4 Milliarden Euro im ersten Halbjahr 2002, die wir mit EU-Beitrittskandidaten umgesetzt haben, etwa 40 Milliarden Euro auf Mittelständler entfallen."
Hohes Lohnniveau nicht mehr haltbar
Doch sorgen diese Zahlen keineswegs nur für Aufbruchstimmung bei den deutschen Mittelständlern. Die EU-Osterweiterung löst bei vielen pure Angst aus. So fürchten Handwerker und Baufirmen in Zukunft nicht mit mehr ihren mittel- und osteuropäischen Konkurrenten mithalten zu können. Das Lohnniveau in den Beitrittsländern betrage gerade einmal ein Fünftel der deutschen Löhne. Neben der Baubranche sorgen die deutlich niedrigeren Gehälter vor allem im Transportgewerbe für Sorgenfalten, wie Hans Stapelfeld, Geschäftsführer der gleichnamigen Hamburger Spedition berichtet: "Es kommen aus den östlichen Ländern Fahrer, die arbeiten zwei, drei, vier Monate im Hamburger Raum. Sie schlafen hinten in ihrer Kajüte, fahren dann wieder zurück und können davon ihre Familie sehr gut ernähren. Das entspricht nicht dem Sozialniveau eines deutschen LKW-Fahrers. Es wird dazu führen, dass wir viele Arbeitsplätze umbauen müssen."
Umbau oder Abbau von Arbeitsplätzen
Arbeitsplätze umbauen, das könnte heißen, deutsche Arbeiter besser zu qualifizieren und fortzubilden. Dann könnten sie ihr höheres Lohnniveau durch eine entsprechend höhere Produktivität wieder wettmachen. Arbeitsplätze umbauen könnte auch heißen, dass deutsche Unternehmen mit Firmen aus den EU-Beitrittsländern zusammenarbeiten, damit diese arbeitsintensive Tätigkeiten ganz übernehmen. Die deutschen Firmen würden sich dann auf die höher entlohnten Spezialaufgaben konzentrieren.
Arbeitsplätze umbauen kann aber auch bedeuten, dass deutsche Unternehmen statt teurer einheimischer Arbeitnehmer günstige Arbeiter aus Mittel- und Osteuropa einstellen. Dafür interessiert sich nach einer Umfrage der Handwerkskammer Hamburg ein Drittel der Betriebe. Sogar zwei Drittel der Unternehmen sprechen sich gegen Übergangsfristen beim Zuzug von Arbeitnehmern aus den Beitrittsgebieten aus. Ganz im Gegensatz zu zahlreichen Verbänden des deutschen Mittelstands, die sich bei der Bundesregierung massiv für lange Übergangsfristen bei der Freizügigkeit der Arbeitskräfte eingesetzt haben.
Osterweiterung als Impuls für endlich nötige Reformen
Doch nicht alle Verbände denken so: Jürgen Hogefoster, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Hamburg, sieht große Chancen durch die Zuwanderung von Menschen aus den Beitrittsländern. Ungarn, Polen oder Litauer könnten den für die Zukunft erwartenden Fachkräftemangel beheben. Für Hogefoster birgt eine schnelle Freizügigkeit noch weitere Chancen: "Ich erhoffe mir, dass durch eine solche Zusammenarbeit der Arbeitskräfte die verkrusteten Strukturen auf den Arbeitsmärkten bei uns aufgebrochen werden. Wir brauchen dringend in hohem Maße Innovationen in der Bundesrepublik Deutschland in allen Bereichen, auch auf den Arbeitsmärkten. Ich glaube, dass wir durch die EU-Osterweiterung Innovationen bekommen, die nur durch Druck entstehen." (Bericht vom 10.10.2002)