"Der revolutionäre Prozess gewinnt an Kraft"
13. Juni 2013DW: Ihr Roman "Arche Noah" erschien 2009 in Ägypten und im Mai 2013 auf Deutsch. Er handelt von Ägyptern, die ihre Heimat verlassen wollen. Sie haben ihn vor der Revolution geschrieben, was erzählen Sie darin?
Chalid al-Chamissi: Ich wollte über das Ende eines Regimes, das Ende einer Ära in Ägypten schreiben. Wir konnten den Gestank eines toten Körpers riechen, das war grauenerregend. "Arche Noah" handelt von einer Flut, die die Fundamente Ägyptens zerstört, und diese Zerstörung wollte ich darstellen.
Als ich das Buch zwischen 2006 und 2008 schrieb, war das Chaos die Regel und der Sturm so gewaltig, dass wir die Orientierung verloren hatten. Wir waren wie Vögel, die vom Sturm mitgerissen werden. Die Emigration aus Ägypten ist in "Arche Noah" das Symbol dafür, dass es so nicht weiter ging.
Der Roman ist ein Dialog zwischen dem Erzähler und den Charakteren, eine Vermischung aus Fiktion und realen politischen Ereignissen.
Der Roman schließt sich wie ein Kreis, und alle Charaktere erzählen davon, wie gerne sie Ägypten verlassen wollen, wie und warum. Auf einer zweiten Ebene geht es um das Chaos in ihren Köpfen und auf einer dritten um den toten Körper.
Wie wurde "Arche Noah" in Ägypten aufgenommen?
Es wurde sofort ein Bestseller, das meistverkaufte Buch 2009.
Bekamen Sie keine Schwierigkeiten mit dem Regime?
Das Regime war schon tot. Und welchen Ärger sollte man mit einem Regime bekommen, das bereits beerdigt wurde?
Viele Künstler und Journalisten werden heute wegen mutmaßlicher anti-islamischer Äußerungen oder Präsidentenbeleidigung angegriffen. Das Ende der Meinungsfreiheit?
Wenn man im Chaos lebt, und das tun wir noch immer, dann kann die freie Meinungsäußerung bedroht sein. Oder aber sie wird wie wahnsinnig betrieben. Wir haben keine stabile Ordnung. Ja, wir haben ein Problem mit freier Meinungsäußerung, aber gleichzeitig sagen Menschen täglich Dinge über den Präsidenten, die selbst für Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht tolerierbar sein dürften.
Das Problem sind die Medien. Sie schüren die Propaganda über eine Revolution, die 2011 begann und 2011 endete, von den Medien stammt die Idee, es gäbe ein "Vor" und ein "Nach" der Revolution. Aber das ist icht wahr, denn in Ägypten und in vielen anderen Ländern rund um die Welt durchleben wir seit mehreren Jahren einen revolutionären Prozess. In Ägypten begann er 2004, und er ist nicht zu Ende. Im Gegenteil, er wird jeden Tag stärker, langsam zwar, aber das ist normal.
Die Muslimbrüder sind seit fast einem Jahr an der Macht. Haben sie die Kompetenz, das Land zu regieren?
Nein, die haben sie nicht. Jeden Tag begehen sie große Fehler und verlieren damit an Glaubwürdigkeit. Ich gehöre zur politischen Linken, aber nicht einmal in meinen kühnsten Träumen hätte ich geglaubt, dass sie ihre Glaubwürdigkeit so schnell verlieren. Sie haben einfach keine Leute, die dem Job gewachsen sind, und das ist ein soziales und wirtschaftliches Desaster.
Die Islamisten habe nur eines im Kopf: an der Macht zu bleiben. Dafür haben sie Strategien entwickelt, zum Beispiel Kontrolle über die Jugend. Dazu müssen sie wiederum das Bildungssystem kontrollieren. Schon vor 40 Jahren haben sie damit begonnen, sehr systematisch und effizient, und heute kontrollieren sie die Bildung. 2011 begannen sie damit, die etwa 4000 Jugendzentren Ägyptens unter ihren Einfluss zu bringen. Jetzt ist der Kultursektor dran. Dieser Krieg gegen die Kultur hat gerade erst begonnen. Sie wollen alle Kulturzentren und Institutionen kontrollieren und bestimmen, was dort geschieht. Und natürlich kämpfen sie dafür, die Judikative unter ihre Kontrolle zu bringen.
Was ist das langfristige Ziel der Muslimbrüder?
Meine Meinung, Ägypten oder souveräne Staaten sind ihnen egal. Sie wollen, dass alle Muslime auf der Welt nur einem Gesetz gehorchen, dem Gesetz des Koran. Aber sie verlieren ihre Legitimation rasend schnell. Ägypter aller Gesellschaftsschichten, sogar Islamisten sagen, die Ära der Muslimbrüder ist bald vorbei.
Welche Programme hat die Opposition, um die politische, wirtschaftliche und soziale Krise in Ägypten zu beenden?
Auch keine der Oppositionsparteien ist glaubwürdig. Das ist das Hauptproblem. Sie haben Programme, aber keine fundierten. Sie brauchen Zeit, vernünftige Instrumente zu entwickeln. Und das Land braucht Zeit, bis eine politische Kraft entsteht, die wirklich die Forderungen aus diesem revolutionären Prozess umsetzen kann.
Wie tragen Intellektuelle und Künstler zum Transformationsprozess bei?
Netzwerke werden gegründet, es gibt viele Proteste. Ich gehöre zu einer Gruppe Kulturschaffender, die eine neue Kulturpolitik für Ägypten entwirft. Wir verlassen uns nicht mehr aufs Kulturministerium, weil es uns nicht repräsentiert.
Wie kann der Transformationsprozess in Ägypten erfolgreich werden?
Vergessen Sie die Vorstellungen einiger Medien und europäischer Politiker, die über eine Transformation von der Diktatur in eine Demokratie sprechen. Die Europäer und Amerikaner finanzieren viele Organisationen, die auf diesen Transformationsprozess hin arbeiten. Aber wir befinden uns nicht in einem Transformationsprozess von A nach B, denn die repräsentative Demokratie liegt überall im Sterben. Sie ist eine Idee des 18. Jahrhunderts, und diese Ideen sind tot. In Ägypten orientieren wir uns nicht an den Ideen, nach denen in Europa gelebt wird.
Was wir stattdessen tun müssen, ist eine fundierte Analyse des revolutionären Prozesses, der seit zehn Jahren in Gang ist. Warum dauert er an? Daraus müssen wir ein Manifest unserer Forderungen ableiten. Bisher haben wir unsere Forderungen nicht in einem theoretischen Text verankert, wie beispielsweise die Akteure der Französische Revolution.
Wie sehen Sie die Zukunft Ägyptens?
Wir durchleben eine gesellschaftlich sehr dynamische Ära in Ägypten. Jeder kann sich frei ausdrücken, auf die Straße gehen, Fragen stellen. Es wird eine lange Zeit dauern, aber ich bin sehr optimistisch, denn der revolutionäre Prozess gewinnt an Kraft.
Chalid al-Chamissi (auch Chaled al-Chamissi oder Khaled el-Khamissi) ist ein ägyptischer Bestsellerautor, renommierter Journalist und Gesellschaftskritiker. Anfang Juni 2013 stellte er in Berlin seinen zweiten Roman "Arche Noah" vor. Darin erzählt er von den Schicksalen jener Menschen, die mangels Perspektiven Ägypten verlassen haben und sich im Ausland durchschlagen. Bereits sein erster Roman "Taxi" war ein Bestseller und wurde in zehn Sprachen übersetzt. In "Taxi" ließ er die Zustände vor der Revolution in Kairo von Taxifahrern kommentieren. Ironisch, böse, aberwitzig. Beide Bücher spiegeln die politische Entwicklung Ägyptens in den letzten Jahren wider - von der politischen Unzufriedenheit einst über die aufkeimende Hoffnung bis zur beginnenden Resignation.