Christopher Kloebles Roman "Das Museum der Welt"
3. Mai 2020"Wir verließen Southampton am 20. September auf dem Dampfschiffe Indus", schrieb Adolf Schlagintweit im Jahr 1854 an den damals schon hochbetagten Naturforscher und Entdecker Alexander von Humboldt (1769-1859). Adolf, erst 25-jährig, und seine beiden Brüder wollten es ihm gleichtun, als Wissenschaftler, Forschungsreisende und Bergsteiger neues Terrain erobern. Das Gebiet, das sie sich dafür ausgesucht hatten, war der indische Subkontinent und das damals sogenannte Hochasien, der Himalaya, das verbotene Tibet.
Adolf Schlagintweit sollte das Abenteuer nicht überleben. Nach drei Jahren, auf der Rückreise nach Europa, wurde er 1857 in Kashgar als chinesischer Spion geköpft. Auch der Ruhm, den ihre in umfangreichen Aufzeichnungen festgehaltenen Entdeckungen den jungen Brüdern aus Bayern eintrugen, blieb vergleichsweise bescheiden. Profitiert davon hat vor allem das Unternehmen, in dessen Auftrag die Schlagintweits unterwegs waren: die Britische Ostindien-Kompanie, die seit 1600 im Namen der englischen Krone weltweit Handelswege erschloss.
Als Aktiengesellschaft agierte die British East India Company immer mehr wie ein Staat, gründete Niederlassungen in Südafrika, Hongkong, Singapur und zwang Indien und China mit militärischer Macht, sich für den Handel zu öffnen. Der indische Subkontinent wurde ab Mitte des 18. Jahrhunderts in weiten Teilen annektiert und wirtschaftlich ausgebeutet, britisch verwaltet, Englisch zur alleinigen Amtssprache. Erst 1947 wurde Indiens kolonialer Status aufgehoben und das Land, zusammen mit dem abgespaltenen muslimischen Pakistan, in die Unabhängigkeit entlassen.
Stoff für große Romane
Für die Literatur sind die Entdeckungsreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts ein faszinierender Stoff. Schon Jules Verne ließ sich von James Cooks Abenteuern zu seinen fantastischen Welterfindungen inspirieren. Auch in der neueren deutschen Literatur finden sich nicht wenige bekannte Romane, die Entdecker als die Vorboten einer kolonialistischen Globalisierung ins Zentrum stellen. Sten Nadolny hat mit seinem preisgekrönten Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" (1983) dem Polarforscher John Franklin (1786-1847) ein Denkmal gesetzt. Daniel Kehlmann erschuf mit seiner "Vermessung der Welt" (2005) über Humboldts Expeditionsfahrt im Amazonas einen Weltbestseller. Ilja Trojanow zeichnete in "Der Weltensammler" (2006) wesentliche Stationen der Biographie von Richard Francis Burton (1821–1890) nach, der zunächst als Beamter der East India Company gedient hatte, ehe er Muslim wurde und in Zentralafrika auf die Suche nach den Quellen des Nils ging.
Auch in Christopher Kloebles neuem Roman "Das Museum der Welt" geht es um Entdeckungen und Abenteuer, die wegweisenden Studien der Brüder Schlagintweit auf dem indischen Subkontinent. Das Besondere an seinem Buch ist seine Perspektive: Leser erleben die Erkundung einer für die Forscher neuen Welt durch den erzählerischen Blick eines jungen Inders. Ich-Erzähler ist der "mindestens" zwölfjährige Bartholomäus aus Bombay, der seinen Namen, aber auch seine Deutschkenntnisse einer strengen Erziehung durch Missionare verdankt. Als Dolmetscher begleitet der Waisenjunge die Gebrüder durch das von der East India Company beherrschte Reich - und wird dabei immer selbstbewusster. Bartholomäus beschließt, das erste Museums Indiens zu gründen. Auf den gefährlichen Reisen sammelt er Objekte, aber vor allem Immaterielles: Gefühle, Träume, Erinnerungen. Sein eigenes Museum, ein Museum seiner indischen Welt.
Literarische Dekolonialisierung
Christopher Kloeble hat den kolonialen Blick umgedreht. "Wir neigen dazu, uns als zentral zu begreifen und den Rest der Welt als weiter entfernte Orte", kommentierte der Autor im Gespräch mit der DW. "Ich wollte nicht den hundertsten Roman aus der Perspektive der Abenteurer schreiben. Im 19. Jahrhundert gibt es dazu lange Listen von englischer Literatur, die genau das getan hat." Kloeble ging es darum, "aus der Sicht von jemandem von dort" zu zeigen, was Kolonisierung bedeutet. "Dazu gehört auch die Kolonisierung der Seele, dieses Durchdringen einer Person, und was es mit Menschen macht, wenn sie eine Macht akzeptieren müssen, der sie eigentlich nicht zustimmen." Das macht seinen Roman zu einem literarischen Werk der Dekolonialisierung - auch wenn er sich unterhaltsam als Abenteuerroman um das "Great Game", den Machtkampf zwischen England, Russland und China, Mitte des 19. Jahrhunderts lesen lässt.
"Das Museum der Welt" ist Christopher Kloebles vierter Roman. Der Autor und regelmäßige Gastprofessor an Universitäten in den USA und Großbritannien ist mit einer Inderin verheiratet und lebt in Berlin und Neu-Delhi. Eine englische und eine Übersetzung in Hindi sind in Vorbereitung.
Christopher Kloeble: Das Museum der Welt, dtv 2020, 528 Seiten