1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Junge Menschen in der Corona-Starre

7. Mai 2021

Die Pandemie hat die Zukunftsaussichten der Jugend verschlechtert. Jobs und Lehrstellen fehlen. Das drückt auf die Psyche. Aus Berlin Sabine Kinkartz.

https://p.dw.com/p/3t6Gc
Eventmanagerin Julia Nickels
Das hätte ihr Arbeitsplatz sein sollen: Eventmanagerin Julia Nickels vor der Mercedes-Benz Arena in BerlinBild: Sabine Kinkartz/DW

Hoffnung und Enttäuschung liegen oft nah beieinander. Vor der seit mehr als einem Jahr geschlossenen Mercedes-Benz Arena - einer Berliner Veranstaltungshalle mit 17.000 Plätzen - sind es acht hohe Säulen mit Leuchtreklamen, die Erwartungen wecken. Im Sekundentakt wechselnd kündigen sie unter anderem den Star-Geiger David Garrett, das St. Petersburg Festival Ballett und das Musical "One Vision of Queen" an. Allerdings erst für das Jahr 2022.

Julia Nickels steht auf dem menschenleeren Platz und breitet die Arme aus. Das wäre ihre Welt, hier in der Arena würde sie so gerne arbeiten, hat das auch während ihres Studiums schon getan. Im Oktober 2020 machte die 23-Jährige ihren Abschluss in Tourismus- und Eventmanagement. Konzerte organisieren, Tagungen, Kongresse oder auch Hochzeiten, das gehört zum Berufsbild. 

Es hätte so schön werden können

"100 Prozent Optimismus", sagt Nickels auf die Frage nach ihren Karrierechancen vor der Corona-Pandemie. "Als ich meiner Mama von meinen Studienplänen erzählte, sagte sie, das sei eine super Idee, denn Veranstaltungen und Tourismus gebe es doch immer." Im Nachhinein sei dieser Satz "ein wirklich guter Lacher", fügt Nickels mit bitterem Unterton hinzu. "Dass sich das alles auflöst, damit hätte wirklich niemand gerechnet. Von meinem Optimismus sind vielleicht drei Prozent übrig geblieben."

Deutschland Die Eventmanagerin Julia Nickels steht vor dem geschlossenen Eingang zur Mercedes-Benz Arena in Berlin
Eventmanagerin Julia Nickels steht seit Monaten vor geschlossenen TürenBild: Sabine Kinkartz/DW

Seit acht Monaten dreht sich Julia Nickels in einer Dauerschleife: Sie sucht, unterstützt von einer Sachbearbeiterin der Arbeitsagentur, nach Stellenausschreibungen, schreibt Bewerbungen, absolviert Vorstellungsgespräche, hofft - und wird doch immer wieder enttäuscht. "Ich habe inzwischen 45 Bewerbungen geschrieben, sieben sind noch unbeantwortet, 38 wurden abgelehnt. Immer wieder Absagen zu bekommen, drückt das Selbstbewusstsein komplett herunter."

Die Psyche leidet

Sie sei eigentlich ein selbstbewusster Mensch, sagt Nickels, aber das setze ihr richtig zu. "Man muss sich immer wieder sagen, es liegt nicht an mir, es liegt an der Situation, an Corona, ich darf jetzt nicht aufgeben." Kraft schöpft sie in der Familie und im Freundeskreis. "Auch meine Beraterin vom Jobcenter sagt immer wieder, wir schaffen das, wir finden irgendeinen Job. Und das ist ganz wichtig, finde ich."

Arbeitsmarkt für Jugendliche

Selbstverständlich ist so viel Unterstützung nicht. In der Corona-Pandemie fühlen sich viele junge Leute, die in den Beruf starten wollen, mit ihren Sorgen und Nöten allein gelassen. Zu diesem Ergebnis kam kürzlich eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. Besonders hart trifft es Schulabgänger auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Viele fühlen sich überfordert, weil berufsberatende Angebote und Betriebspraktika ausfallen, die Schulen zum Teil geschlossen und die Lehrer nicht ansprechbar sind.

Zehn Prozent weniger Lehrstellen

In der Pandemie ist die Zahl der Ausbildungsplätze um rund zehn Prozent zurückgegangen. Im vergangenen Jahr waren es noch 467.500 - der tiefste Stand seit 30 Jahren. "Dramatisch" nennt das Matthias Anbuhl, Bildungsexperte beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). "Das hat große Auswirkungen insbesondere für Jugendliche mit schlechtem Schulabschluss und auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund, die es vor der Krise schon schwer hatten, einen Ausbildungsplatz zu finden."

Die Hände eines Handwerkers mit schwarzer Haut sind zu sehen, der eine Zange an einen Wasseranschluss setzt
In der Pandemie ist es für viele noch schwieriger, eine Ausbildungsstelle zu findenBild: picture-alliance/dpa/S. Hoppe

Das musste auch Antonia Scholz erleben. Die Berlinerin ging auf ein Gymnasium, doch das war nicht so ihr Ding. Deswegen entschied sie sich gegen das Abitur und für eine Ausbildung nach der zehnten Klasse. Nach "vielen Bewerbungsgesprächen, die nicht so gut liefen", bekam sie im Februar 2020 eine Zusage für einen Ausbildungsplatz im Studierendenwerk, der Verwaltung der Berliner Hochschulen. "Ich habe mich so gefreut", erinnert sich Antonia.

Im Lockdown brach für die Jugend einiges zusammen

Doch dann verbreitete sich das Coronavirus und auch im Studierendenwerk war nichts mehr wie zuvor. Im Mai bekam Antonia einen Brief, in dem die Ausbildung abgesagt wurde. Für die damals 17-Jährige brach eine Welt zusammen. "Es war grauenvoll", erinnert sie sich. Antonia verlor allen Elan, verkroch sich in ihrem Zimmer, wollte nicht mehr aufstehen. "Da war das Gefühl, die wollen mich nicht", erzählt sie. "Ich dachte, was bringt das, wenn ich mich jetzt nochmal bewerbe? Dann kommt wieder eine Absage und in der Pandemie kann sowieso niemand sagen, ob das etwas wird."

Deutschland. Die Auszubildende Antonia Scholz steht vor dem Rathaus Berlin Tempelhof
In der Pandemie platzte für Antonia Scholz ein Traum Bild: Sabine Kinkartz/DW

Antonia hatte das Glück, dass ihre Eltern nicht locker ließen, sie motivierten und anleiteten. Durch eine staatliche Initiative für Jugendliche ohne Ausbildungsstelle bekam Antonia noch eine Chance und ist jetzt im ersten Ausbildungsjahr als Verwaltungsfachangestellte. "Heute fühle ich mich sehr gut," freut sie sich. "Aber ohne meine Eltern hätte ich das nicht geschafft."

Jugendliche brauchen viel Unterstützung

Was aber machen Jugendliche, denen niemand hilft? Die Corona-Pandemie verstärke ein Problem, das es schon seit Jahren gebe, sagt DGB-Bildungsexperte Anbuhl. "Schon 2019 hatten wir 1,4 Millionen junge Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren, die nicht in einer Ausbildung sind, nicht in einem Studium und nicht in einem Freiwilligendienst - die einfach gar nichts haben."

Deutschland Rathaus Berlin-Tempelhof mit Anzeigenkampagne für Ausbildungsplätze
Anzeigenkampagne an einem Berliner Rathaus. Doch in der Pandemie ist die Ausbildung auch hier erschwertBild: Sabine Kinkartz/DW

Keine Ausbildung zu haben, verfolgt die meisten für den Rest ihres Lebens. "Denen drohen später immer wieder Kurzfristjobs, schlecht bezahlte und schlechte Arbeitsbedingungen oder lange Phasen der Arbeitslosigkeit", sagt Anbuhl. Er geht davon aus, dass sich die Zahl der Zurückgelassenen durch die Pandemie weiter erhöhen wird.

Experten schlagen Alarm

Dazu passt, dass die Jugendämter in Deutschland kürzlich auf enorme Entwicklungsdefizite junger Menschen und eine aktuell steigende Zahl von Schulabbrechern hingewiesen haben. Es sei zu erwarten, dass nach 2020 auch in diesem Jahr rund 104.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen - doppelt so viele wie in Nicht-Pandemiejahren.

Abiturienten sitzen mit großem Abstand zueinander an Einzeltischen. Die Aufnahme zeigt die Schüler von oben
In der Pandemie verlassen mehr Jugendliche die Schule ohne AbschlussBild: Sebastian Kahnert/dpa-Zentralbild/dpa/picture alliance

Was soll aus ihnen werden? Experten fordern unter anderem eine Ausbildungsplatzgarantie, wie es sie beispielsweise in Österreich gibt. Dort können Jugendliche, die keine Stelle finden, zunächst in einer staatlichen Einrichtung eine Ausbildung beginnen und werden später in Unternehmen vermittelt. Es sei wichtig, immer wieder etwas zu tun, "die Flinte nicht ins Korn zu werfen" und auch nach Alternativen zu suchen, rät Anbuhl jungen Menschen, die beim Start ins Berufsleben Schwierigkeiten haben.

Viele wollen nicht bis 2022 warten

Auch Eventmanagerin Julia Nickels hat sich inzwischen umorientiert. Sie geht davon aus, dass die Veranstaltungsbranche noch viele Monate braucht, um wieder in Schwung zu kommen. "Es ist bis jetzt noch ziemlich hoffnungslos, auch wenn alle an Hygienekonzepten arbeiten und versuchen, irgendwie eine Möglichkeit zu schaffen, um das alles wieder aufzumachen."

Bis 2022 will die tatkräftige junge Frau aber nicht zuhause sitzen und warten. Vor kurzem hat sie sich deshalb als Personalmanagerin in einer Zeitarbeitsfirma beworben, die Handwerker an Unternehmen vermittelt. Dort wurde sie umgehend zur Probezeit eingeladen. Wenn ihr der Job zusagt, wird sie ihn annehmen. In die Eventbranche, denkt Julia Nickels, kann sie in ein paar Jahren immer noch wechseln.

Lernen am Limit - Kinder in der Krise