Ampel-Koalition: Streitthema Osteuropa?
22. Dezember 2021Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP, immerhin fast 180 Seiten lang, spielen die Beziehungen zu Mittel- und Südosteuropa und selbst das deutsch-russische Verhältnis eine Nebenrolle. Auf die von Russland provozierten Konflikte in Ex-Sowjetrepubliken und den Krieg in der Ukraine geht das Papier nur mit wenigen Bemerkungen ein. Die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2 wird gar nicht erwähnt. Auch über den Rechtsstaatsstreit mit Polen und Ungarn verliert der Vertrag kein Wort.
Der dürftige Stellenwert der künftigen deutschen Osteuropa- und Russland-Politik im Koalitionsvertrag ist erstaunlich und zugleich kein Zufall. Erstaunlich, weil die Länder Mittel- und Südosteuropas, darunter vor allem die Visegrad-Staaten, wichtige Wirtschaftspartner Deutschlands sind und die Bundesrepublik in der EU die wichtigste Schnittstelle zwischen Ost und West ist. Auch das deutsch-russische Verhältnis hat international in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung gewonnen und ist zudem ein Thema, das die deutsche Öffentlichkeit stark beschäftigt.
Dass im Koalitionsvertrag dennoch kaum über Osteuropa-Politik gesprochen wird, ist wohl deshalb kein Zufall, weil es dabei um eines der großen Streitthemen der Ampel-Koalition geht. Die SPD steht eher für eine sanfte Linie gegenüber dem Kreml. Mit Kritik an den Rechtsstaatsdemontierern Jaroslaw Kaczynski und Viktor Orban sind die Sozialdemokraten bereits in der Großen Koalition insgesamt wenig aufgefallen. Die FDP ist in der Osteuropa-Politik gespalten: Ein Lager würde im Zweifel Wirtschaftsinteressen obenan stellen, das andere betont Menschen- und Bürgerrechte. Die Grünen vertreten einen harten kremlkritischen Kurs und eine "wertebasierte" Außenpolitik - für die Partei nach Umwelt- und Klimaschutz eine ihrer wichtigsten Image-Fragen.
Forsches Auftreten
Nun sind ausgerechnet die ersten Amtswochen der neuen Bundesregierung wesentlich von der Osteuropa- und Russland-Politik bestimmt - nach dem Corona-Management das derzeit wohl zweitwichtigste Thema überhaupt. Die Gründe: Polens Konfrontationskurs im Rechtsstaatsstreit mit der EU, Sezessionsdrohungen des Führers der bosnischen Serben, Milorad Dodik, und vor allem: der neuerliche Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze.
Dazu hat die neue Außenministerin Annalena Baerbock bereits einige Male Statements abgegeben, die sehr klar im Ton waren. Sie drohte Russland "harte Konsequenzen" an, sollte es in die Ukraine einmarschieren. Außerdem ordnete sie nach dem Urteil im Tiergarten-Mordprozess umgehend die Ausweisung zweier russischer Diplomaten an. Von ihrem Vorgänger, dem SPD-Außenminister Heiko Maas, war man ein derart forsches Auftreten nicht gewohnt.
Fahren auf Sicht
Allerdings: Wer dieser Tage mit Vertretern der Ampel-Koalition über die Osteuropa- und Russland-Politik der neuen Bundesregierung spricht, stößt auf viel Prinzipielles und wenig Konkretes, auf ein Abstecken von Erwartungen und auf viele Sätze, die nach politischem Spagat klingen. Der Eindruck: Die Koalitionspartner wollen den latenten Streit nicht hochkochen lassen und fahren auf Sicht.
Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, sagt der DW, es stimme, dass mit dem Kreml in den großen politischen Fragen in den vergangenen Jahren keinerlei Einigkeit erzielt worden sei. "Man darf den Gesprächsfaden aber nicht abreißen lassen und man muss zugleich klare Ansagen machen." Ein deutscher Sonderweg kommt dabei für Berlin laut Schmid nicht in Frage. "Man muss Russland klarmachen, dass es eine Bilateralisierung des Dialogs nicht geben wird und dass wir den Dialog als Nato und EU führen."
Aus für Nord Stream 2 bei russischem Ukraine-Einmarsch?
Die politische Bombe Nord Stream 2 erklärt Schmid für entschärft. "Die Debatte, ob man dafür oder dagegen ist, ist vorüber", sagt der SPD-Politiker. "Die Pipeline ist gebaut. Jetzt muss man erst einmal die Rechtslage abklären und das Zertifizierungsverfahren abwarten." Einen Stopp von Nord Stream 2 für den Fall, dass Russland Gaslieferungen als politische Waffe einsetzt oder in die Ukraine einmarschiert, will Schmid vorab weder befürworten, noch ausschließen. "Es gibt da keinen Automatismus", sagt er.
Grüne und FDP haben ihren expliziten politischen Widerstand gegen Nord Stream 2 zumindest vordergründig aufgegeben und wollen ebenfalls den Ausgang des Zertifizierungsverfahrens abwarten. Dennoch ist es kein Geheimnis, dass vor allem die Grünen bei einer weiteren russischen Aggression in der Ukraine ein Aus für die Pipeline sehen.
Kein Dialog um jeden Preis
Robin Wagener, Grünen-Sprecher für Europapolitik, äußert sich dazu nur sehr allgemein. "Wenn Russland weiter eskaliert und erneut in die Ukraine einmarschiert, dann wird das ganz erhebliche Konsequenzen haben, da stehen die Grünen ganz klar dahinter", sagt Wagener der DW. Er sehe derzeit keinen Streit in der Osteuropa- und Russland-Politik der Koalition, es stimme aber, dass die Grünen und die SPD beim Thema Russland "unterschiedliche Akzente" setzten. Beispielsweise mache es, bei aller Wichtigkeit, mit Russland im Dialog zu bleiben, keinen Sinn, einen Dialog zu führen, bei dem nichts herauskomme.
Die FDP-Politikerin Renata Alt, gebürtige Slowakin, langjährige Berichterstatterin ihrer Partei für Mittel- und Osteuropa und derzeit Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Menschenrechte, sagt der DW: "Ich persönlich frage mich, warum man Nord Stream 2 überhaupt braucht, wenn Nord Stream 1 noch immer nicht voll ausgelastet ist." Überdies habe man ja in den vergangenen Monaten gesehen, wie Putin Gaslieferungen instrumentalisiere. Es sei deshalb sehr wichtig, dass die neue Bundesregierung eine größere Unabhängigkeit von Russland, aber auch von den USA bei der Energieversorgung und bei Rohstoffimporten vorantreibe.
Auch deutsche Wirtschaft gefordert
Mehr Einigkeit herrscht in der Koalition beim Thema Rechtsstaatsstreit mit Polen und Ungarn. Nils Schmid von der SPD lässt dabei sogar Selbstkritik anklingen. Er spricht von "Beißhemmungen der vorherigen Bundesregierung gegenüber Viktor Orban". "Dahinter standen parteipolitische Gründe, weil Orbans Partei Fidesz, ebenso wie die CDU, EVP-Mitglied war", so Schmid. "Das war ein Fehler und der kommt uns jetzt teuer zu stehen. Was zurzeit in Polen stattfindet, ist in gewisser Weise auch deshalb möglich, weil man gegenüber Ungarn so viel versäumt hat."
Das könnten auch Grüne und FDP so unterschreiben. Der Grüne Robin Wagener sieht jedoch vor allem Brüssel in der Pflicht. "Wir sollten als einzelner EU-Mitgliedsstaat nicht im Alleingang gegen Polen oder Ungarn agieren", sagt er. Renata Alt hingegen appelliert eindringlich an die neue Bundesregierung, nicht so zögerlich zu agieren wie ihre Vorgängerin. Ausdrücklich sieht die FDP-Politikerin auch die deutsche Wirtschaft gefordert, etwa die deutschen Autobauer in Ungarn: "Es gibt durchaus Möglichkeiten für große Unternehmen wie Daimler und BMW Statements abzugeben, wenn es um Menschen- und Bürgerrechte geht."
Wende in der Westbalkan-Politik?
Ein Bundestagsabgeordneter der Ampel-Koalitionäre, der ebenso eindringlich formuliert, ist der langjährige SPD-Außenpolitiker Josip Juratovic, gebürtiger Kroate und Südosteuropa-Experte. Er forderte schon zu Zeiten der Großen Koalition eine Wende in der Westbalkan-Politik der Bundesregierung wie auch der EU - allerdings vergeblich.
Den "Berlin-Prozess", ein seit 2013 bestehendes Gesprächsformat der Bundesregierung mit den Westbalkan-Staaten, das der demokratischen Transformation und der EU-Integration der Region dienen soll, nennt Juratovic einen "Wanderzirkus", mit dem Angela Merkel "Autokraten hofiert und ihre Regime stabilisiert" habe. "Der Widerspruch dieser Westbalkan-Politik ist, dass sie einerseits erzählt, sie biete der Region eine EU-Perspektive, andererseits aber oft mit politisch verbrauchten und kompromittierten Leuten arbeitet und die autokratischen Regime finanziert, ohne das an Bedingungen zu knüpfen."
Der SPD-Mann fordert deshalb von der neuen Bundesregierung die seiner Ansicht nach längst überfällige Wende: "Auf dem Westbalkan müssen wir die demokratische Opposition unterstützen und zur Zusammenarbeit ermutigen. Es gibt vor Ort viele Kräfte, die dazu bereit sind."