Mein Europa: Tauziehen um Bosnien
16. Dezember 2021In sechs Monaten will sich die bosnische Teilrepublik Srpska aus den Institutionen des gemeinsamen Staates zurückziehen, sogar aus der Armee. So hat es das Parlament der bosnischen Serben beschlossen. Seither herrscht Alarmstimmung auf den Rängen: Wird Milorad Dodik, der starke Mann der serbischen Nationalisten in Bosnien und Herzegowina, der Ankündigung Taten folgen lassen? Was ist das Ziel? Beginnt eine Eskalation? Gibt es wieder Krieg?
Diese Fragen sind alle falsch gestellt. Pläne, Ziele, Durchbrüche, selbst einander sich aufschaukelnde Emotionen sind dem Politikmodell, wie es sich in Bosnien in den 25 Jahren seit Ende des Krieges entwickelt hat, wesensfremd. Die Parteien gehen in Trippelschritten vor und zurück, der Abstand zwischen ihnen bleibt immer gleich. Es ist das Prinzip des Tauziehens. Beständig ziehen, keinen Dezimeter nachgeben, die Füße fest in den Boden rammen: Die grundlegenden Techniken der Sportart, die der Politik in Bosnien das Muster vorgibt, sind überschaubar.
Wer diese Techniken beherrscht, ist für die Politik in und um Bosnien gerüstet. Anders als beim Sport allerdings gibt es in der dortigen Politik keine Markierung, die anzeigt, wann einer gewonnen hat. Der Wettkampf geht einfach immer weiter.
Mannschaften werden beim Tauziehen sinnvollerweise nach einem klaren Prinzip aufgestellt. Vorne, Auge in Auge mit dem Gegner, steht der Schwächste, der aber möglichst bedrohlich die Zähne fletschen sollte. Milorad Dodik, serbisches Mitglied im dreiköpfigen bosnischen Staatspräsidium, ist für diese Position die ideale Besetzung: Er hat weder politisch noch wirtschaftlich großes Gewicht - aber einen schlimmen Ruf als Provokateur und nationalistischer Hardliner.
Ein Gegner ohne Rückhalt
Als sein Pendant steht auf der anderen Seite ganz vorne der neue Hohe Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo, der Deutsche Christian Schmidt. Er ist unerfahren, landesunkundig und verfügt über keinen Rückhalt, weder im formal für Bosnien und Herzegowina zuständigen Peace Implementation Council, noch im UN-Weltsicherheitsrat, nicht einmal in der Diplomatie seines eigenen Landes, die sich nach dem Machtwechsel in Berlin gerade erst wieder sammelt.
Tricks gibt es beim Tauziehen so gut wie keine, außer einem: Nimmt der Coach bei der gegnerischen Mannschaft Konzentrationsschwächen wahr, muss das Seil abrupt und mit voller Kraft gezogen werden. Wenn die andere Seite irgendwann die Chance hatte, durch festes Ziehen einen ganzen Meter Boden gutzumachen, dann jetzt.
Ankermann Putin
Auch auf der nächsten Position muss die bosnisch-serbische Partei den Vergleich nicht scheuen. Gleich hinter Dodik ist Aleksandar Vucic postiert, der Präsident der benachbarten Republik Serbien. Ohne dessen Rückhalt hätten die bosnischen Serben ihren Vorstoß nicht wagen können. Vucics direkter Widerpart ist die Europäische Kommission, in Westbalkan-Angelegenheiten orientierungslos, hin- und hergerissen zwischen einander widersprechenden Losungen aus Berlin, Paris und Budapest.
Die stärkste Person schließlich, der "Ankermann", steht bei einem solchen Wettkampf tunlichst am Ende. Russlands Präsident Wladimir Putin kann im Gezerre um Bosnien nur gewinnen: Er kann die EU, die seit Jahren auf dem Westbalkan versagt, nicht nur vorführen, sondern auch direkt schwächen. Anders als im Fall der Ukraine muss er wegen Bosnien keine Gegenmaßnahmen wie etwa Sanktionen oder nur, wie im Fall von Belarus, einen Prestigeverlust fürchten.
Sechs Monate Frist
Der Ankermann auf der anderen Seite schließlich, US-Präsident Joe Biden, hat in Südosteuropa kaum noch einen Stand. Die USA konzentrieren sich auf China und, notgedrungen, bald auch auf die Ukraine. Dass sie ihr Gewicht in weiteren Weltregionen einsetzen, wird nach der Schande in Afghanistan niemand glauben.
Sechs Monate hat der Westen nun Zeit, sich wieder zu sammeln und einen kräftigen Gegenpol zu bilden. Bis nach Washington wird der zwar kaum reichen. Aber zumindest die EU-Westbalkanpolitik muss endlich wieder auf die Beine kommen.
Rechtlich ist die Position der bosnischen Serben unhaltbar: Die "Zustimmung" zu den gemeinsamen Institutionen in Bosnien, die sie jetzt "zurückziehen" wollen, ist keine Unterschrift unter einen kündbaren Vertrag; sie resultiert vielmehr aus verbindlichen Verfassungsbestimmungen.
Werden Verfassungsbestimmungen verletzt, muss es Sanktionen geben. Das Instrumentarium dafür ist weit gefächert. Es reicht vom Rückzug der Europäischen Investitionsbank (EIB) aus dem serbischen Teil Bosniens bis zum Ausschluss bosnisch-serbischer Banken aus dem internationalen Zahlungsverkehr.
Auch Serbiens Regierung in Belgrad ist für Druck empfänglich. Das Land bekommt aus der EU nicht nur Heranführungshilfe für seine Reformen. Auch die größten Investoren sitzen in Europa - nicht in China und erst recht nicht in Russland. Politisch laviert Präsident Vucic geschickt zwischen Brüssel und Moskau. Zeigt die EU ihm die kalte Schulter, bleibt ihm nichts übrig, als in die russische Umlaufbahn einzuschwenken.
Das ist keine schöne Aussicht für einen ambitionierten Staatschef: Denn damit verlöre Vucic seinen komfortablen Spielraum, würde zu Moskaus Befehlsempfänger und müsste überdies zusehen, wie Kreml-nahe Oligarchen an seiner wirtschaftlichen Machtbasis knabbern. Erst recht ist das Einschwenken in Putins Orbit ein Horror für die serbische Gesellschaft, die bei weitem nie so russophil war, wie Vucics Propaganda suggeriert. Schon Slobodan Milosevic war im Jahr 2000 reif für den Sturz, als er sein Land in die damals von Russland initiierte "Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft" führen wollte.
Noch hält Europa das Tau in der Hand. Es muss nur daran ziehen.
Norbert Mappes-Niediek arbeitet seit 30 Jahren als Südosteuropa-Korrespondent für deutsche Medien. Sein Buch "Die Ethno-Falle: der Balkan-Konflikt und was Europa daraus lernen kann" (224 Seiten) erschien 2005 im Christoph Links Verlag, Berlin.