Internationaler Literaturpreis für Amos Oz
29. Juni 2015"Wie sicher können sich Juden auf diesem Planeten fühlen?", fragte Amos Oz, der zu den bekanntesten Schriftstellern Israels gehört, im August 2014 in einem Interview mit der Deutschen Welle. "Ich denke nicht an die vergangenen zwanzig oder fünfzig Jahre, sondern an die vergangenen 2000 Jahre", fuhr er damals fort. Die Äußerung wirkt wie ein Kommentar zu seinem damals gerade auf Hebräisch erschienenen Roman "Judas". Wie in allen seinen Romanen und Erzählungen - spätestens seit "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" von 2002 - berührt auch dieses jüngste Werk grundsätzlichste Fragen der israelischen Existenz: die Staatsgründung vor dem Hintergrund des Holocaust, die Kriege und Auseinandersetzungen mit den Palästinensern.
Auf kleinstem Raum große Geschichten zu verhandeln, das macht unter anderem die Kunst des 76-jährigen Autors aus. Auch "Judas" legt er wie ein Kammerspiel an, in dem fünf Personen das Geschehen bestimmen: drei lebende und zwei tote.
Ende der 50er-Jahre finden sich in einem Haus am Rande der Jerusalemer Altstadt drei Generationen zusammen. Schmuel Asch muss notgedrungen Arbeit finden. Die Firma seines Vaters ist ruiniert, sein Lebensunterhalt so dahin wie die Freundin. Der gescheiterte Theologie-Student wird gegen Unterkunft und ein kleines Taschengeld Vorleser und Gesprächspartner eines körperbehinderten Greises, eines hochgebildeten Mannes namens Gerschom Wald. Fortan lebt Schmuel mit ihm und seiner verwitweten Schwiegertochter Atalja in dem stillen Haus. Darüber mit anderen zu sprechen, ist ihm verboten. Aber warum, das ist an sich schon eines der vielen Geheimnisse, die dieses Dasein in einer Art Niemandsland begleiten.
"Jesus in den Augen der Juden", war das Thema der ursprünglich geplanten Magisterarbeit Schmuels, eine hervorragende Grundlage für seine philosophischen Gespräche mit dem alten Mann. Erst sehr allmählich erschließt sich ihm die Beziehung seiner beiden Mitbewohner und die Verhältnisse, die sie zusammen gebracht haben. Die geheimnisvolle, kinderlose Atalja, die vom Alter her seine Mutter sein könnte, war die Frau von Gerschom Walds Sohn.
Micha hieß der Sohn. Er ist einer der beiden Toten, die die Leerstellen hinterlassen haben, auf die die unausgesprochenen Fragen des Alten und der Frau immer wieder hinführen. Der andere ist Ataljas berühmter Vater, Schealtiel Abrabanel, ein fiktiver Gegenspieler des historisch realen Ben-Gurions, erster Ministerpräsidenten Israels. Amos Oz zeichnet Abrabanel mit allen psychologischen Widersprüchlichkeiten: Während er für eine friedliche Koexistenz mit den Palästinensern kämpfte und sich dadurch in der Jewish Agency und der zionistischen Weltorganisation zum Außenseiter machte, hatte er für seine Tochter keine Liebe übrig. Er wird zum Verräter gestempelt, zum Judas, zu jener Gestalt, auf die sich die tiefsten antisemitischen Gefühle richten.
Ein Roman, der Jahrtausende umfasst
"Judas" ist ein philosophischer Roman, der sich, gestützt auf theologische Literatur, mit der Frage des Verrats auseinandersetzt. Warum sollte Judas Jesus, der als Wundertäter ohnehin in Jerusalem stadtbekannt war, wirklich für dreißig Silberlinge (was damals gar nicht besonders viel war) verraten haben? War es nicht vielmehr so, dass Judas mehr als alle anderen Jünger seinen Meister verehrte und nur bewiesen sehen wollte, dass Jesus allmächtig ist und sich vom Kreuz retten kann? Die Antwort auf die im Roman immer wieder erörterte Frage, die das Verhältnis von Juden und Christen im Kern berührt, ist nicht nur von theologischer, sondern von weltpolitischer Bedeutung. Die Schilderung der Kreuzigung Jesus' aus der Perspektive Judas' gehört zu den beeindruckendsten Passagen des Romans.
Meisterlich ist auch, wie es Amos Oz gelingt, in diesem klassisch wirkenden Roman das Jerusalem des Winters 1959/60 heraufzubeschwören. In der dichten, grauen Atmosphäre ist von vornherein klar, dass auch die Liebesgeschichte, die sich zwischen Atalja und dem lockenköpfigen Studenten entspinnt, zum Scheitern verurteilt sein muss. Die Zeit scheint wie angehalten und doch spiegeln sich in den Gesprächen, den Verlusten und Hoffnungen der drei Hausbewohner all die historischen Turbulenzen nicht nur der jüngeren Jahrzehnte, sondern der vergangenen 2000 Jahre - wie zitiert.
Der vom Haus der Kulturen der Welt und der Hamburger Stiftung Elementarteilchen ausgelobte Preis wird Amos Oz und seiner herausragenden Übersetzerin Mirjam Pressler am 8. Juli in Berlin überreicht.
Amos Oz: "Judas" (Habesora al pi Jehuda), aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler, Suhrkamp Verlag 2015