Moderne Robinsonade: "Die Spur des Anderen"
12. Juni 2015Zeitlicher Ausgangspunkt ist das Jahr 1659. Wie Daniel Defoes "Robinson Crusoe" beginnt auch Patrick Chamoiseaus Roman in diesem Jahr, und schnell wird klar, dass es sich um eine Neuauflage des literarisch-philosophischen (Alp-)Traums "Schiffbrüchiger auf einsamer Insel" handelt. "Robinson Crusoe", man begegnet diesem Namen schon nach wenigen Seiten – im französischen Original "L'empreinte à Crusoé" sogar schon im Titel.
Defoes Robinson, das als erster englischer Roman gilt, hat seit seinem Erscheinen im Jahr 1719 ein eigenes Genre begründet und zahllose Fortsetzungen und Umschreibungen erfahren, darunter auch moderne Neuinterpretationen von karibischen Autoren. Michel Tournier etwa schrieb "Freitag oder Im Schoß des Pazifik" (1967), Derek Walcotts veröffentlichte eine lyrische Crusoe-Trilogie, und Édouard Glissants poetisches Werk erschien auf Deutsch 2002 gesammelt unter dem Titel "Schwarzes Salz".
Kulturelle Identität
Immer geht es dabei um moralphilosophische Fragen, um den Konflikt zwischen Natur und Kultur, oder, deutlicher auf den zeitgenössischen Zusammenhang bezogen, um die Entwurzelung einer Gesellschaft in Folge des Kolonialismus: Verschleppung und Sklaverei haben die ursprünglich afrikanischen Einwohner der Karibik ihrer Geschichte beraubt, allein orale Überlieferungen sind von ihrer originären Kultur übrig. Was macht ihre Identität aus? Diese Frage bleibt zurück.
Wenn nun Patrick Chamoiseau, der wie Glissant aus Martinique stammt, der unüberschaubaren Zahl von Robinsonaden eine neue hinzufügt, dann ist genau dies der Hintergrund, vor dem er seinen Mann auf einer Insel stranden lässt. Dieser Mensch ist ohne Erinnerung und Identität, aber nicht ohne Sprache. Seinen Namen entnimmt er der Gravur eines "Gehänges", mit dem ein Schwert an seinem Körper befestigt ist: "Robinson Crusoe". Das Notwendigste, das er zum Überleben braucht, findet er, wie Defoes Robinson, auf einer zerschellten Fregatte.
Literarische Utopie
Chamoiseaus Roman ist über 232 Seiten hinweg ein komplexer, nie abgeschlossener Monolog. Es gibt keine Satzenden und keine Punkte, lediglich durch Strichpunkte markierte Atempausen. In den dem eigentlichen Text nachgestellten Anmerkungen "Aus der Werkstatt" kommentiert der Autor diese Vorgehensweise: "Der Strichpunkt schmuggelt Energie ein." Weniger literarisch formuliert ist diese Form gut geeignet, einem als Bericht dargebotenen Bewusstseinsstrom und einer sich immer wieder wandelnden Wahrnehmung zu folgen.
"Robinson" beschreibt den Raum seiner Insel mit ihren Felsen und Höhlen, der tropischen Pflanzen- und Tierwelt und das alles umgebende Meer exzessiv und hoch poetisch. Dabei scheint es sich um eine immer wieder unterschiedliche Insel zu handeln, je nach Ich-Zustand des Berichtenden. Es sind die klassischen Topoi der literarischen Utopie, die hier zitiert werden: Die Hölle des Anfangs verwandelt sich in ein landwirtschaftliches Paradies, eine Art Schlaraffenland. Es folgt eine idealisierte Reise, ein Idealzustand, dem das Ich letztlich noch nicht gewachsen ist. Die leere Insel bietet einer Utopie Raum, ehe diese zwangsläufig wieder zerbricht und sich als hohl erweist.
Die Suche nach dem Ich
Denn noch plagt dieses Ich die Frage nach seiner Herkunft: "… vielmehr fühlte ich meinen Ursprung mit etwas Unerträglichem verbunden, mit einem unermesslichen Schmerz, …" Der Schmerz wird zur Besessenheit, als "Robinson" (wie bei Defoe) einen Fußabdruck im nassen Sand entdeckt – "die Spur des Anderen". Nichts ist mehr wie vorher, die Suche nach dem Anderen, dem Fremden, aber auch der möglichen Gefahr beherrscht jahrelang alles Handeln und Sinnen von Chamoiseaus Held. Dabei geht es nicht um einen "Freitag" wie beim klassischen Robinson, nicht um ein potenzielles Gegenüber, sondern um das Andere. Dass es nicht gefunden werden kann, entspricht der Logik der Moderne und des Identitätsverlustes: Chamoiseaus Robinson erkennt den Fußabdruck letztlich als seinen eigenen, das Ich findet sich auf sich selbst zurückgeworfen.
Die Fiktion sucht die Wahrheit
Das hochintellektuelle Spiel des Autors steckt voller Anspielungen und Bezüge auf literarische und philosophische Vorläufer und Referenzgrößen. Statt Defoes Bibel findet Chamoiseaus einsamer Held die Gedichte von Parmenides und die Fragmente von Heraklit im Wrack; sie leuchten ihm als "kleine dunkle Sonne" auf dem Insel-Gefängnis. Das Spiel mit Bezügen, Identitäten und unfixierbaren Zeiträumen wird durch die Rahmenhandlung über die Spitze hinaus getrieben und fällt auf den doppelten Boden der literarischen und der realen Geschichte.
Durch insgesamt nur 13 Seiten "Tagebuch des Kapitäns", die erst die Position des Erzählers erklären, erhält der Roman seine vielschichtige Dimension. Robinson Crusoe ist nicht Robinson Crusoe, sondern ein freigesetzter Sklave, Freund und Vorläufer von Robinson Crusoe, dem Sklavenhändler… "Das Schreiben forscht, man muss es schürfen lassen", sagt Chamoiseau. Das Lesen auch, fand die Jury des Internationalen Literaturpreises und hat den Roman in der großartigen Übersetzung von Beate Thill als einen von sechs Titeln auf die Shortlist gesetzt.
Patrick Chamoiseau: "Die Spur des Anderen", aus dem Französischen von Beate Thill, Verlag Das Wunderhorn, 2014. L'empreinte à Crusoé, Éditions Gallimard, Paris 2012