Internationaler Literaturpreis 2015: Die Shortlist
1. Juni 2015Gut 4.000 belletristische Übersetzungen erscheinen jährlich auf dem deutschen Buchmarkt. Nicht alle Titel sind echte Neuerscheinungen, und auch Comics werden bei dieser Statistik mitgezählt. Die Shortlist des Internationalen Literaturpreises, den das Haus der Kulturen der Welt (HKW) und die Stiftung Elementarteilchen in diesem Jahr zum siebten Mal ausgelobt haben, umfasst sechs Übersetzungen fremdsprachiger Romane. Ein Platz auf ihr bedeutet also eine hohe Anerkennung, nicht nur für den Autor oder die Autorin, sondern auch für die Übersetzer der nominierten Werke.
Preisverdächtige Vielfalt
Fast 140 Titel, übersetzt aus 23 Sprachen, haben deutschsprachige Verlage im Jahr 2015 für den Preis eingereicht. Eine siebenköpfige Jury hat die Einsendungen seit Februar bewertet und in den vergangenen Tagen die sechs Titel ausgewählt, die sie für preiswürdig hält. Das Spektrum ist breit: Es reicht vom Debütroman der jungen simbabwisch-amerikanischen Autorin NoViolet Bulawayo bis zum intellektuellen Entwicklungsroman des vielfach preisgekrönten und international längst hoch anerkannten Israelis Amos Oz. Für ihre Übersetzung von "Judas" aus dem Hebräischen wurde Mirjam Pressler in diesem Jahr bereits auf der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Bulawayos "We Need New Names" stand 2013 immerhin schon auf der Auswahlliste für den Man Booker Prize.
Fragmentierte Welten
Daša Drndićs Dokumentarroman über die Ermordung der Juden in Südosteuropa erinnert an die noch unaufgearbeitete Vergangenheit des 20. Jahrhunderts: "Sonnenschein" enthält neben umfangreichen erzählerischen Teilen auch Nichtfiktionales, lange, erstmals veröffentlichte Namenslisten von Opfern und Zitate aus Archiven. Der von Brigitte Döbert und Blanka Stipetić aus dem Kroatischen übersetzte Roman erobert somit auch formal Neuland. Thematisch leistet das Gilbert Gatores Opfer-Täter-Roman über den ruandischen Völkermord von 1994. "Das lärmende Schweigen" versucht mit den Mitteln der Literatur, Verdrängtes wieder an die Oberfläche zu holen, und stellt die Frage nach Schuld und Versöhnung.
Neu interpretierte Mythen
Mit Patrick Chamoiseau, dessen großes Thema die kreolische Kultur ist, findet sich ein weiterer international bekannter Autor auf der Shortlist. Seine Roman "Die Spur des Anderen" schreibt den Robinson-Mythos neu. Beate Thill, die im letzten Jahr gemeinsam mit dem Autor Dany Laferrière für ihre Übersetzung von "Das Rätsel der Rückkehr" preisgekrönt wurde, hat auch Chamoiseaus philosophische Robinsonade aus dem Französischen übertragen.
Krisztina Tóths unsentimentale Kindheitsgeschichte aus dem Ungarn der Nachkriegszeit lenkt den Blick zurück nach Europa. Für ihre Beschreibung vom Leben im sinnbildlichen "Aquarium", in Armut und gesellschaftlicher Außenseiterstellung, hat der Übersetzer György Buda ein charmant österreichisch gefärbtes Deutsch gewählt.
Der Weg zur Preisverleihung
Ganz um die Welt kommt man bei der Lektüre der ausgewählten Bücher im siebten Jahr des Internationalen Literaturpreises nicht: Titel aus Asien oder Südamerika fehlen auffällig. Dafür ist der afrikanische Kontinent stark vertreten. Welches Duo aus Autor oder Autorin und Übersetzer oder Übersetzerin 2015 den Preis davonträgt, wird am 29. Juni bekannt gegeben. Beide können sich auf ein Preisgeld von 25.000 respektive 10.000 Euro freuen.
Am 8. Juli kommen dann alle nominierten Autoren, Übersetzer und die Juroren zur Preisverleihung in Berlin zusammen. Gemeinsam feiern sie und ihr Publikum im Haus der Kulturen der Welt ein vielsprachiges Literaturfest, das in Form von Gesprächen, Lesungen und Diskussionen begangen wird – und natürlich mit der Auszeichnung der diesjährigen Preisträger.
Alle Titel der Liste
Auch Sie können sich bis dahin ein Urteil bilden: In den nächsten Wochen stellen wir Ihnen alle sechs Shortlist-Titel vor. Hier sind sie noch einmal im Überblick:
NoViolet Bulawayo: "Wir brauchen neue Namen" (We Need New Names), aus dem Englischen übersetzt von Miriam Mandelkow, Suhrkamp Verlag 2014
Patrick Chamoiseau: "Die Spur des Anderen" (L'empreinte à Crusoé), aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill, Verlag Das Wunderhorn 2014
Daša Drndić: "Sonnenschein" (Sonnenschein), aus dem Kroatischen übersetzt von Brigitte Döbert und Blanka Stipetić, Hoffmann und Campe 2015
Gilbert Gatore: "Das lärmende Schweigen" (Le Passé devant soi), aus dem Französischen übersetzt von Katja Meintel, Horlemann Verlag 2014
Amos Oz: "Judas" (Habesora al pi Jehuda), aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler, Suhrkamp Verlag 2015
Krisztina Tóth: "Aquarium" (Akvárium), aus dem Ungarischen übersetzt von György Buda, Nischen Verlag 2015