Jugendbuchautorin Mirjam Pressler zum 75.
18. Juni 2015Ihren Geburtstag verbringt sie in der Sonne, auf Mallorca. Mirjam Pressler ist zum ersten Mal auf der Baleareninsel, ihre Familie hat ihr die Reise geschenkt. "Das Meer ist so blau, der Himmel so weit/es gibt keine bessere Reisezeit", ein Satz von ihr aus dem Bilderbuch "Die Schnecke und der Buckelwal". Für die Schriftstellerin gerade eine gute Zeit, auszuspannen aus dem kräftezehrenden Geschäft des Bücherschreibens. Das Jahr 2015 hat ihr den Deutschen Übersetzpreis der Leipziger Buchmesse beschert. Wohlverdient, ausgezeichnet wurde sie für ihre grandiose Übersetzung von Amos Oz Roman "Judas".
Literarische Gefühlsachterbahnen
Mit 75 Jahren kann sie auch auf eine stolze Lebensbilanz zurückblicken: über 50 eigene Bücher, Romane, vor allem Kinder- und Jugendbücher und mehr als 400 Übersetzungen – aus dem Hebräischen, Niederländischen, amerikanisch-englischen und aus Afrikaans. Darunter echte literarische Kaliber, wie John Steinbeck ("Von Mäusen und Menschen"), Zeruya Shalev ("Mann und Frau"), Aaron Appelfeldt ("Blumen der Finsternis") und immer wieder Bücher des israelischen Autors Amos Oz ("Unter Freunden", "Verse auf Leben und Tod").
Gleich für ihr Erstlingswerk, den Roman "Bitterschokolade" (1980) bekommt sie den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis, ein unerwarteter Geldsegen. Die einfühlsame Geschichte um die dicke Eva, die all ihren Kummer in sich rein frisst, erreicht eine Auflage von 400.000 Exemplaren, ein Erfolg den nur ihre Bücher über Anne Frank einholen. Die Autorin Mirjam Pressler versteht die Nöte und Ängste von Kindern und Jugendlichen. Ihre Hauptfiguren sind meist Außenseiter: die einsame Ilse, der verängstigte Herbert oder die mutige Hanna. Geschichten, die alles andere als eine heile Welt vermitteln.
Freudlose Nachkriegskindheit
Auch die Welt, in die das jüdische Mädchen Mirjam am 18. Juni 1940 hineingeboren wird, war höchst problematisch. Früh kam sie zu Pflegeeltern, bei denen sie als Kind das Lesen für sich entdeckt: "Das war die Zeit kurz nach dem Krieg. Wir waren sehr arm, haben abends kein Licht angemacht, um Strom zu sparen. Wir saßen dann immer in der Küche. Ich hatte vom Herd das Türchen aufgemacht, saß im Lichtschein des Feuers und habe meiner Pflegemutter Todesanzeigen aus der Zeitung vorgelesen." Bücher gibt es nicht in der Familie, Lesen gilt als Zeitverschwendung. Wegen der "Gefahr von Verwahrlosung", wie es noch aus dem Amtsdeutsch der Nazis in der Nachkriegszeit heißt, kommt sie in ein Kinderheim.
Prügelstrafen und Lieblosigkeit prägen ihre Kindheit. Sie liest mit Begeisterung Karl-May-Bücher, spinnt, wo sie geht und steht, die Geschichten weiter, um sich aus der geistigen Enge heraus zu phantasieren. Ein Internat, das Gymnasium in der Stadt und dann das ersehnte Studium an der Akademie der Künste in Frankfurt am Main ebnen ihr einen eigenen Weg. 1962 geht sie als junge Frau nach Israel, lebt und arbeitet dort in einem Kibbuz. Die Hochzeit mit einem Israeli bringt ihr kein Glück, als alleinerziehende Mutter muss sie ihre drei Töchter dann in Westdeutschland mit Gelegenheitsjobs alleine durchbringen.
Musikalische Übersetzerarbeit
Das Schreiben verschafft ihr zu ihrer Überraschung ein finanzielles Fundament. Anfangs sind ihre Bücher stark autobiografisch geprägt. Daneben etabliert sie sich als ausgezeichnete Übersetzerin. Sie kann sich schnell in andere Lebenswelten und komplizierte Charaktere einfühlen und vergleicht ihre Übersetzungsarbeit gerne mit der eines Musikers, der sich auch auf die Komposition eines anderen einstimmen muss.
Gegen Morgen fiel der erste Regen des Winters auf die Häuser des Kibbuz, auf die Felder und auf die Obstplantagen. Ein frischer Duft von nasser Erde und von blank gewaschenen Blättern erfüllte die Luft. Im frühen Morgen schwebte leichter Nebeldunst zwischen den Häusern, und auf den Blumen in den Anlagen glitzerten Wasserperlen. (aus: Amos Oz, Unter Freunden. Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler)
Ihre jüdische Herkunft motiviert die Autorin Mirjam Pressler, sich verstärkt mit Erlebnissen im Dritten Reich, mit Naziverfolgten und harten Kinderschicksalen im Nachkriegsdeutschland zu beschäftigen. Kinder und Jugendliche lieben ihre Art, schnörkellos und direkt zu beschreiben, wie schwer es manche Kinder damals hatten. Auf Lesungen vor allem in Schulen, die ihr sehr am Herzen liegen, wird sie bestürmt mit Fragen.
Kinderbücher für kleine Leselöwen
Ihr erster großer Kinder-Roman ist ein Wagnis für Pressler. Aber das Buch ("Wenn das Glück kommt, musst man ihm einen Stuhl hinstellen") wird gleich mehrfach ausgezeichnet. Ein Jahr später bekommt sie 1995 dafür den Deutschen Jugendliteraturpreis, der mit 10.000 DM dotiert ist. Zwischendurch wagt sie sich an ihre ersten Kriminalromane ("Mit 64 stirbt man nicht", "Rosengift") und schreibt vergnügliche Bilderbücher für Vorschulkinder.
Auch der mehrfach aufgelegte Jugendroman "Malka Mai" (2001) bekommt auf Anhieb hervorragende Kritiken. Sie erzählt darin die ergreifende Geschichte eines siebenjährigen polnischen Mädchens, das sich in den letzten Kriegsjahren ganz allein durchkämpfen muss. 2007 widmet sich die Schriftstellerin Mirjam Pressler erstmals klassischen Motiven. Sie übersetzt Lessings berühmtes Drama "Nathan der Weise" als Jugendroman in die heutige Zeit. Und begeistert damit junge Leser für einen literarischen Stoff, der als Schullektüre nur müdes Abwinken hervorruft.
Lebenswerk: "Das Tagebuch der Anne Frank"
Wie sonst niemand, beschäftigt sich Mirjam Pressler mit dem Schicksal eines jüdischen Mädchens, das Weltgeschichte geschrieben hat: "Das Tagebuch der Anne Frank" (1988) wird ihr wichtigstes Übersetzungswerk aus dem Niederländischen.
Kenntnisreich und einfühlsam schreibt sie 1992 ein Sachbuch über das Leben der jungen Jüdin ("Ich sehne mich so") – das bis heute beliebte Schullektüre ist. Zusammen mit dem Cousin von Anne, dem kürzlich verstorbenen Buddy Elias, und dessen Frau Gerti, gibt sie 2009 auch die Familiengeschichte der Franks ("Grüße und Küsse an alle") heraus.
Pressler ist den größten Teil ihres arbeitsreichen Lebens der jungen Anne Frank verbunden geblieben. Ihr jüdisches Schicksal vor dem Vergessen zu bewahren, ist ihr ein Herzensanliegen. "Ich gebe mich nicht der Illusion hin, Bücher könnten die Welt verändern. Aber für einzelne Menschen kann ein bestimmtes Buch eine wichtige, weltbewegende Bedeutung erlangen", sagt sie. Weltweite Übersetzungen des Tagebuchs der Anne Frank in über 70 Sprachen zeugen davon, dass ihr das nachhaltig gelungen ist.