Pressler: "Anne Frank weltweit ein Symbol"
8. Mai 2014In einem eigens dafür errichteten Theater fand am Donnerstagabend (08.05.2014) die Uraufführung des weltberühmten "Tagebuchs der Anne Frank" statt - als multimedial aufbereitetes Stück. Autoren sind die Schriftsteller Leon de Winter und Jessica Durlacher, beide stammen aus jüdischen Familien, die den Holocaust überlebt haben. Die Schriftstellerin Mirjam Pressler findet, dass das Stück ein lohnenswertes Wagnis ist - für Menschen, die das Buch sonst nie gelesen hätten. Die Deutsche Welle hat vor der Premiere mit ihr gesprochen.
DW: Frau Pressler, Sie arbeiten seit den 80er Jahren als Übersetzerin mit dem "Tagebuch der Anne Frank". Verträgt diese persönliche, ergreifende Geschichte so ein großes, von allen Medien begleitetes Theater-Event?
Mirjam Pressler: Rein gefühlsmäßig würde ich sagen: nein. Für mein Gefühl ist es eher etwas, was man lesen sollte. Aber auf der anderen Seite ist Anne Frank natürlich eine Figur, die sehr beeindruckend und facettenreich ist und durchaus ein großes Theater verträgt.
Heute Abend wird rund um die Premiere ein "Großer Bahnhof" in Amsterdam stattfinden: Fotografen, Fernsehkameras, mehr als 1000 geladene Gäste. Und danach gibt es Snacks, Small Talk und Prosecco, wie nach einer ganz normalen Theateraufführung. Verträgt sich das mit dem Thema?
Das geht inzwischen, weil die Distanz zu dieser historischen Person Anne Frank so groß ist. Gerade wegen der vielen Events, die es gibt. Man kann es schon als Theaterstoff sehen. Kinder und Jugendliche haben den Abstand natürlich noch nicht, aber die Erwachsenen haben ihn. So wie uns zum Beispiel auch "Schindlers Liste" als Film nicht mehr so direkt beteiligt. Es ist ein einfacher Stoff, der bearbeitet wird.
Der Autoren des Stücks haben von großer Verantwortung gesprochen, als sie den Auftrag von der Anne-Frank-Foundation bekommen haben. Haben Sie das als Autorin und Übersetzerin auch so empfunden?
Ja natürlich. Das hat jeder, der damit arbeitet. Und de Winter und Durlacher sind wirklich gute Autoren. Ich denke, dass das Theaterstück dazu dienen soll, es auch für die heutige Zeit aufzubereiten. Für Leute, die das Buch normalerweise gar nicht lesen würden, aber sehr wohl ins Theater gehen.
Es gibt das Tagebuch weltweit in mehr als 70 Übersetzungen, es gibt zahlreiche Kino-Verfilmungen, Shelly Winters hat für ihre Rolle in der Hollywoodverfilmung 1959 den Oscar bekommen. Und es gibt Tassen, Sticker, Jutetaschen und so weiter. Ist diese Art der Kommerzialisierung nicht immer eine Gratwanderung?
Das finde ich natürlich wirklich Kitsch. Und es gibt auch Comics und solche Sachen. Das widerstrebt mir mehr als ein Theaterstück. Aber ich weiß nicht, wie man es verhindern kann. Es hat auch für mein Gefühl nicht mehr viel mit Annes Tagebuch zu tun. Sie ist eben zum Symbol geworden und gerade das Anne-Frank-Haus in Amsterdam gehört zu den meistbesuchten europäischen Museen.
Wollte Anne Frank eigentlich Schriftstellerin werden? Inwieweit ist das mehr als das Tagebuch eines jungen Mädchens?
Ich bin sicher, es wäre etwas Großes aus ihr geworden. Ein Mädchen, das in diesem Alter von 13, 14 Jahren in der Lage war aus so wenig so viel zu machen. Im Hinterhaus, in dem sie mit ihrer Familie versteckt leben musste, da gab es ja nichts. Es war wirklich langweilig, es gab kaum Abwechslung. Und sie hat es geschafft, daraus etwas zu machen und eine ganze Welt aufzubauen.
Viele, die das Buch nie gelesen haben, denken, das ist ein tragisches Schicksal: dieses jüdische Mädchen Anne Frank wird verraten, ins KZ Auschwitz deportiert und stirbt dann im Lager Bergen-Belsen 1945 - nur wenige Wochen vor der Befreiung durch die Alliierten. Aber in ihrem Tagebuch erlebt man sie als lebensbejahende, fröhliche Person. Wie passt das zusammen?
Es ist ganz einfach zu beantworten. Das Tagebuch endet mit dem Satz: "Hier endet Annes Tagebuch." Aber eigentlich ging es dann erst richtig los. Anne hat kein Tagebuch mehr schreiben können, als sie im Konzentrationslager war. Sie war in Amsterdam untergetaucht, aber es war eine relative Sicherheit bis zu dem Zeitpunkt, wo sie verraten wurden. Die meisten Kinder, die untergetaucht waren, waren von ihren Eltern getrennt und mussten die Verstecke häufig wechseln. Anne war zwei Jahre lang am selben Ort, mit ihren Eltern und den gleichen Leuten.
Das heißt, das letzte Kapitel fehlt eigentlich noch?
Natürlich fehlt das. Da ist einerseits das, was die Rezeption des Tagebuchs so erleichtert: man kann es gut in der Schule lesen und als Lehrer lesen lassen und denken, jetzt hat man was zum Dritten Reich gemacht. Aber in Wirklichkeit hört das Tagebuch an dem Punkt auf, wo es eigentlich schlimm wird. Ich hoffe, dass die beiden Theaterautoren nicht aufgehört haben an dem Punkt.
Mirjam Pressler ist Schriftstellerin und Übersetzerin und eine der renommiertesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Geboren 1940 in Darmstadt, wuchs sie als jüdisches Kind bei Pflegeeltern und im Kinderheim auf. Diese bitteren Erfahrungen verarbeitet sie später auch in ihren Büchern. 1980 kam ihr erster Jugendroman “Bitterschokolade“ heraus, der mit Preisen ausgezeichnet wurde und eine Auflage von 400.000 Exemplaren erreichte. Große Berühmtheit erlangte sie mit ihrer Kritischen Ausgabe der "Tagebücher der Anne Frank" (1985). Für ihr "herausragendes literarisches und übersetzerisches Lebenswerk" wurde sie 2013 mit der Buber-Rosenzweig-Medaille geehrt.
Die Fragen stellte Heike Mund.