Malka Mai
15. August 2010Mirjam Pressler ist eine scharfe Beobachterin und erzählt mit schlichten, präzisen Worten stille Geschichten von Menschen, die es nicht eben leicht haben mit diesem Leben. Bereits ihr 1980 erschienenes Erstlingswerk "Bitterschokolade", ein Roman über eine 15-Jährige mit Essstörungen, war überaus erfolgreich und wurde mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis bedacht. Es sollte die erste von vielen weiteren Auszeichnungen dieser bemerkenswerten und bemerkenswert fleißigen Autorin sein. Mehr als 40 Bücher hat sie in den letzten 30 Jahren selbst geschrieben und über 300 aus dem Hebräischen, dem Englischen und dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt, darunter auch die Kritische Werkausgabe der Tagebücher von Anne Frank. Mirjam Presslers eigene Bücher haben indes andere übersetzt – allein der 2001 erschienene Titel "Malka Mai", ein Buch für Jugendliche und Erwachsene, wurde bislang in 14 Sprachen übertragen.
Zerstörte Geborgenheit
Im September des Jahres 1943 hat Malka noch ein eigenes Bett, sie hat Wäsche im Schrank, neue Sandalen, schöne blonde Zöpfe, genug zu essen, und sie hat ihre große Schwester Minna sowie ihre Mutter, die Ärztin Frau Doktor Mai. Kein halbes Jahr später hat Malka gelernt, "nichts zu hören, nichts zu sehen, sich in sich selbst zu verkriechen"; sie hat ihre Heimat verloren und das Vertrauen, dass ihre Mama immer für sie da sein wird; sie ist kahlgeschoren, ausgemergelt und nur noch in der verwehten eigenen Erinnerung das Kind, das früher, vor sechs Monaten, gerade einmal sieben Jahre alt war.
Ende einer Kindheit
Im Frühherbst 1943 begannen die Deutschen auch in Lawoczne, einer Kleinstadt an der polnisch-deutschen Grenze, mit ihren Deportationen. Die Ärztin Hanna Mai und ihre beiden Töchter Minna und Malka müssen völlig überstürzt fliehen. Zu Fuß über die Karparten ins benachbarte Ungarn. Unterwegs wird die erst siebenjährige Malka krank, sie bekommt hohes Fieber. Ihre Mutter beschließt schweren Herzens, sie bei Bauern zurückzulassen. Man wird ihr das Kind nachbringen, sobald es gesund ist, tröstet sie sich. Ein einzelnes Kind falle nicht auf. "Ein Kind läuft immer irgendwie mit". Doch es kommt anders. Malka wird verraten, ins Gefängnis gesteckt und ins Ghetto. Ein monatelanger Albtraum am Abgrund des Lebens beginnt, voller Hunger, in Dreck und Kälte, in selten gewordenen Nischen einer bröckelnden Zivilisation. Aber Malka überlebt. Und findet schließlich, eine andere geworden, sogar zur Mutter zurück. Was wie ein Märchen klingt, geht indes auf Tatsachen zurück.
Erlebte Geschichte
Malka Mai lebt heute in Tel Aviv. Ihre Geschichte hat sie Mirjam Pressler erzählt. Sie hat ihr erzählt, was sie noch wusste, was sie in ihrem Innern nicht begraben hat. Wenig war das, die Lücken hat Mirjam Pressler - selbst eine Jüdin, selbst kaum jünger als Malka Mai, selbst bei Pflegeeltern und im Internat aufgewachsen - wissend und beklemmend einfühlsam gefüllt. Und dabei erzählt sie nicht nur von dem Kind, das seine Erinnerungen abschüttelt, um überleben zu können, sondern auch von dessen Mutter, die an Selbstzweifeln und Vorwürfen beinahe zerbricht.
Kleines Glück
Sie gebe, hat Mirjam Pressler einmal gesagt, sich nicht der Illusion hin, Bücher könnten die Welt verändern. Aber für einzelne Menschen könne ein bestimmtes Buch eine wichtige, weltbewegende Bedeutung erlangen. Dann zum Beispiel, wenn ein Buch erzählt, wie man sich die Tür offen hält für das kleine Glück. Oder dann, wenn ein Kind, alleingelassen mit seinen Nöten und Ängsten, durch ein Buch erfährt, dass es an den äußeren Umständen nicht schuld ist. So ein Buch ist "Malka Mai".
Autorin: Silke Bartlick
Redaktion: Gabriela Schaaf
Mirjam Pressler: Malka Mai. Beltz Verlag. 324 Seiten. 7,95 Euro.
Malka Mai als Hörbuch ist erschienen im Hör-Verlag, 3 CDs, vorgelesen von Eva Gosciejewicz