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Amokläufe und die Psyche

Monir Ghaedi
11. Juli 2022

Für die Verfechter einer lockeren Waffengesetzgebung ist die Sache klar: Schuld ist die psychische Verfassung des Täters, nicht der einfache Zugang zu Waffen. Experten sind von diesem Zusammenhang nicht überzeugt.

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Schüsse bei einer Parade zum 4. Juli in Highland Park, Chicago. Ein frisch verheiratetes Paar legt seinen Brautstrauß zum Gedenken an die Opfer am Tatort ab.
Auf einer Parade am Nationalfeiertag erschoss ein 21-Jähriger in Chicago sieben Menschen und verletzte Dutzende weitereBild: Charles Rex Arbogast/AP Photo/picture alliance

"Eine Schießerei in Kopenhagen, Dänemark, wo Waffen VERBOTEN sind?"

Dieser Tweet der republikanischen Kongresskandidatin für Florida, Lavern Spicer, ging nach einem Amoklauf in einem Einkaufszentrum in Kopenhagen am 3. Juli viral.

Auch andere US-Politiker nutzten den Vorfall, um ihre Position zu untermauern, schärfere Waffengesetze könnten keine Massenschießereien verhindern. Es ist ein Argument, das von Verfechtern einer lockeren Waffengesetzgebung nach nahezu jedem Amoklauf hervorgeholt wird: Nicht Waffen seien schuld an der Gewalt, sondern psychische Störungen.

Die Medien greifen diese stark vereinfachende Argumentation gerne auf, wie viele Studien zeigen. Doch nicht alle Täter werden gleich behandelt: Muslimische Schützen werden häufig nicht als psychisch krank, sondern als religiös motiviert eingeschätzt, wie eine Studie aus dem Jahr 2018 feststellte. Schwarze Männer und Latinos werden als gewaltbereit dargestellt, während weiße Männer als Opfer ihrer psychischen Erkrankungen gelten, so eine weitere Studie.

Der Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und der Ausübung solcher Gewalttaten ist jedoch erheblich vielschichtiger, als viele Politiker und Kommentatoren in den Medien glauben machen wollen.

Psychische Gesundheit - ein Risikofaktor unter vielen

"Psychische Erkrankungen zählen definitiv zu den wichtigen Risikofaktoren", bestätigt Lisa Pescara-Kovach, Professorin für pädagogische Psychologie und Leiterin des Center for Education in Mass Violence and Suicide an der University of Toledo, Ohio, im Gespräch mit der DW. "Doch sie sind nicht der einzige Faktor, und wir sollten uns nicht allein darauf konzentrieren."

Nach dem Amoklauf auf der Parade zum Nationalfeiertag am 4. Juli in Chicago begann Pescara-Kovach, den Hintergrund des mutmaßlichen Täters zu untersuchen. Sie stellte fest: Sein Profil weist viele Ähnlichkeiten mit anderen Tätern auf, die ähnliche Gewalttaten begangen haben.

Infografik Massenschießereien in den USA in 2022

Der Verdächtige litt an Depressionen, bestätigt Pescara-Kovach. Im Jahr 2019 unternahm er einen Selbstmordversuch und drohte einige Monate später, Mitglieder seiner Familie umzubringen. Doch die Depressionen erklären nicht, warum er jetzt auf Menschen schoss.

Durch eine angemessene Risikobewertung hätte der Angriff verhindert werden können, meint Pescara-Kovach: "Er zeigte zahlreiche besorgniserregende Verhaltensweisen, doch zu einer formellen Beschwerde kam es nie." In den sozialen Medien postete er regelmäßig extrem gewalttätige Inhalte, von denen einige im Zusammenhang mit Attentaten oder Schießereien an Schulen standen.

"Hätte jemand irgendwann eine angemessene Bedrohungsanalyse durchgeführt, hätten wir ihm in irgendeiner Form psychologische Unterstützung zukommen lassen können", ist sich Pescara-Kovach sicher. Viel wichtiger sei jedoch, dass der leichte Zugang zu Feuerwaffen solche Angriffe erst möglich mache. Keine Zivilperson solle Hochleistungswaffen besitzen können, wie sie der Verdächtige hatte.

Waffen oder psychische Erkrankungen

Werden psychische Erkrankungen als zentrale Ursache für Waffengewalt in den Vordergrund gerückt, lenkt das von Bemühungen ab, potenzielle Schützen zu identifizieren und zu verhindern, dass sie Anschläge verüben. "Es geht dann nur noch darum, Waffen und psychische Erkrankungen gegeneinander auszuspielen", klagt Pescara-Kovach. In diesem Narrativ werden die Täter als Opfer dargestellt; sie sind nicht mehr diejenigen, die andere zu Opfern machen, verdeutlicht Pescara-Kovach. So werden andere wichtige Faktoren wie soziale Vernachlässigung ignoriert.

Das National Threat Assessment Center des Secret Service der USA hat einen Leitfaden für die Vermeidung von Amokläufen an Schulen veröffentlicht, der regelmäßig aktualisiert wird. In diesem Leitfaden werden Faktoren aufgeführt, die die Mitarbeiter von Schulen und Gesundheitsdiensten im Auge behalten sollten. Dazu gehören die Dynamiken in Familie und Schule, der Zugang zu Waffen sowie psychische Stressfaktoren.

Was sagen die Zahlen?

Genaue Zahlen darüber, welche Rolle psychische Erkrankungen bei Amokläufen spielen, sind schwer zu bekommen. Lediglich bei 25 Prozent der Amokläufer zwischen den Jahren 2000 und 2013 war vor dem Attentat eine psychische Erkrankung diagnostiziert worden, wie eine Studie über diesen Zeitraum im Jahr 2018 feststellte.

Verschiedene weitere Studien, die andere Daten heranziehen, weisen ebenfalls darauf hin, dass nur eine Minderheit der Täter an einer ernstzunehmenden psychischen Erkrankung litt. Eine 2020 veröffentlichte Studie zeigt dagegen, dass etwa zwei Drittel der Amokläufer aus den Jahren 1966 bis 2019 Anzeichen einer psychischen Erkrankung aufwiesen.

Der damalige Präsident Donald Trump beim NRA-ILA Leadership Forum: "Den Abzug drücken psychische Erkrankungen und Hass."
Nach einem Amoklauf sagte der damalige US-Präsident Donald Trump: "Den Abzug drücken psychische Erkrankungen und Hass."Bild: Shannon Stapleton/REUTERS

Wissenschaftler weisen darauf hin, dass psychische Erkrankungen, auch schwere Erkrankungen, weder eine notwendige noch eine ausreichende Bedingung für die Ausübung von Massengewalt sind. Jennifer Skeem, Professorin an der University of California untersuchte mit einem Kollegen ernsthafte psychische Erkrankungen wie Schizophrenie, bipolare Störungen und schwere Depressionen - Erkrankungen, die nicht mit emotionalen Belastungen durch Lebensumstände oder problematischen Persönlichkeitsmerkmalen zu vergleichen sind. Sie stellten fest: "Es besteht ein Zusammenhang zwischen schweren psychischen Erkrankungen und Gewalt – doch dieser Zusammenhang ist geringer, als die Öffentlichkeit denkt oder die Medien es darstellen. Er ist außerdem selten kausal."

In ihrer 2019 veröffentlichten Studie räumen sie ein, dass die meisten Amokläufer irgendwo auf einem sehr weit gefassten Spektrum psychischer Erkrankungen zu verorten sind, doch, wie sie schreiben, zeige das "nur, wie verbreitet psychische Erkrankungen sind".

Wie wird jemand zum Amokläufer?

"Das Problem ist nicht eine ernste psychische Erkrankung", erläutert Pescara-Kovach. "Was diese Menschen fühlen, ist Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und den Wunsch, sich umzubringen." Fragen zur eigenen Identität und Unsicherheit in Bezug auf den eigenen Körper sind Gefühle, die viele Attentäter, bei denen es sich meist um junge Männer handelt, teilen. Sie neigen zu extremistischen Ansichten und sind fasziniert von Nazi-Symbolik und einer hypermaskulinen Bildsprache.

Die Suche nach Ruhm und Aufmerksamkeit ist ebenfalls ein häufiges Motiv bei den Attentätern. "Täter haben häufig […] das Gefühl, dass ihr Leben klein und unbedeutend ist. Sie wollen Teil von etwas Großem sein, Teil der Geschichte", betont Pescara-Kovach. "Schlüssel zur Verhinderung dieser Taten ist die Reduzierung von Risikofaktoren und die Verbesserung des Zugangs zu psychologischen Unterstützungsangeboten", meint sie. Doch sie warnt auch davor, psychologische Beurteilungen mit Gewaltrisiko- und Bedrohungsbeurteilungen zu verwechseln.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert von Phoenix Hanzo.