Zwischen Gefängnis und Selbstzensur
17. Oktober 2015Bülent Kenes sieht müde aus, wie einer, der nachts nicht schlafen kann. Fünf Tage lang saß der 47-Jährige mit dem grau-schwarzen Vollbart hinter Gittern - wegen 14 Tweets, in denen er Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan beleidigt haben soll. Jetzt ist er wieder frei - zumindest auf Bewährung.
"Wir sollen glauben, dass die Türkei eine perfekte Demokratie ist, aber dieses Land verwandelt sich in ein offenes Gefängnis", sagt Kenes. Er ist Chefredakteur der englischsprachigen Zeitung "Today's Zaman". Sie gehört zum Feza-Medienkonzern, der enge Verbindungen zu dem islamischen Prediger Fetullah Gülen hat. Der lebt in den USA, ist ähnlich religiös und konservativ wie Erdogan, war einst sogar ein Weggefährte. Doch heute ist Gülen Staatsfeind Nummer eins.
Was das bedeutet, bekommt jetzt Journalist Kenes zu spüren. Die Tweets, wegen derer ihm bald der Prozess gemacht werden soll, kennt er auswendig. Da ist zum Beispiel eine Karikatur, die er geteilt hat: Sie zeigt Staatschef Erdogan, der sich hektisch Notizen über das Geschehen in seinem Präsidentenpalast in Ankara macht. Kenes kommentierte: "paranoid". In einem anderen Tweet schrieb er: "Jemand, der die demokratischen Regeln nicht respektiert, der Gesetze und die Verfassung bricht, kann nicht Präsident sein."
"Atmosphäre der Einschüchterung"
Was laut Kenes und vielen anderen Journalisten Kritik ist, die unter die Presse- und Meinungsfreiheit fällt, ist für die AKP-Regierung Präsidentenbeleidigung. Und die ist nach Artikel 299 des türkischen Strafgesetzbuches verboten. Die Vorschrift kam lange kaum zur Anwendung - bis Erdogan zum Staatschef gewählt wurde. 37 Reporter wurden wegen dieses und ähnlicher Vorwürfe allein im September vorübergehend festgenommen, 24 Internet-Seiten geblockt, meldet der türkische Journalistenverband. Im Ranking der Pressefreiheit von "Reporter ohne Grenzen" steht die Türkei auf Platz 149 von 180, hinter Mexiko, Malaysia oder Bangladesch.
Von einer "Atmosphäre der Einschüchterung" spricht auch Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. "Die AKP und Erdogan sind inzwischen sehr stark mit dem Staat verwachsen und sehen sich als dessen einzige Repräsentanten. Also wird alles, was sich gegen diesen Staat richtet, gleich als persönliche Beleidigung gesehen", sagt Brakel. "Da hat sich eine Paranoia breit gemacht, die keinen Dissens mehr duldet."
Krankenhausreif geprügelt
Aus Furcht vor Einschränkungen üben viele Zeitungen, TV- und Radiosender inzwischen Selbstzensur. Kritischen Reportern wird mit Entlassung gedroht, damit sie ihre Berichte entschärfen oder brisante Recherchen gleich ganz sein lassen. "Und in vielen Medien wird der Journalismus als Instrument missbraucht, um Regierungspropaganda zu verbreiten. Tatsachen werden verdreht und diejenigen, die das kritisieren, werden als Terroristen oder Verräter beschimpft", sagt Dogan Akin, Chefredakteur der unabhängigen Internet-Zeitung T24. Seine kleine Redaktion sitzt in einem unscheinbaren Haus in der Istanbuler Innenstadt, es gibt kein Klingelschild, kein Logo - aus Sicherheitsgründen, erklärt Akin und erinnert an den Fall von Ahmet Hakan.
Er ist einer der berühmtesten Journalisten des Landes, Moderator bei "CNN Türk" und Kolumnist bei "Hürriyet", beide gehören der ebenfalls regierungskritischen Mediengruppe Dogan an. Anfang Oktober wurde Hakan nach Feierabend vor seinem Haus in Istanbul überfallen und zusammengeschlagen, mit Verletzungen an Rippen und Nase ins Krankenhaus eingeliefert. Die Angreifer - Mitglieder der Regierungspartei AKP - wurden gefasst. Aber schon wenige Tage später waren bis auf einen alle wieder auf freiem Fuß.
Keine Angst vorm Maulkorb
Ahmet Hakan macht trotzdem weiter. Am Abend nach den Selbstmordanschlägen von Ankara mit fast 100 Toten ging er wieder auf Sendung und scheute sich nicht, auch über Fehler und Versäumnisse der Sicherheitskräfte zu sprechen. Der Regierung passt auch das nicht. Sie hat die Berichterstattung über die laufenden Ermittlungen verboten. Inzwischen ist das gängige Praxis in der Türkei. Korruptionsskandale, Armeeangriffe im Kurdengebiet, Minenunglücke - Dutzende Themen haben die staatlichen Pressewächter auf den Index gesetzt.
Bülent Kenes von "Today's Zaman" will sich davon nicht einschüchtern lassen - auch wenn ihm bei einer Verurteilung mehrere Jahre Gefängnis drohen. "Ich habe keine Angst und solange ich kann, werde ich schreiben", sagt er. Und so sehen das auch Dogan Akin und seine Online-Redaktion. "Wenn sie T24 dicht machen, dann machen wir T25 auf. Und wenn sie auch das verhindern, dann berichten wir eben von unseren Wohnzimmern aus."