"Journalisten greifen Journalisten an"
9. Oktober 2015DW: Sie haben am Donnerstag den Leipziger "Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien" bekommen. Was bedeutet das für Sie?
Nedim Sener: Für mich ist das aus drei verschiedenen Gründen sehr aufregend. Ich bin 1966 als Arbeitersohn in Deutschland auf die Welt gekommen. Als ich zwei war, schickte mich meine Familie in die Türkei zu meinen Verwandten. Ungefähr 50 Jahre später komme ich in dieses Land als Journalist zurück, um einen Journalisten-Preis zu bekommen. Meine 12-jährige Tochter und meine Frau sind auch dabei. Es ist einer der wichtigsten Momente meines Lebens. Der zweite Grund ist, dass ich einen Preis für Pressefreiheit bekomme. Das bedeutet viel Verantwortung für mich.
Das Wichtigste ist, dass ich den Preis aufgrund meiner Recherchen über den Mord an Hrant Dink bekommen habe (Anm. d. Red.: der Herausgeber der armenisch-türkischen Wochenzeitung "Agos" wurde 2007 in Istanbul auf offener Straße erschossen). Dass meine deutschen Kollegen meine Arbeit anerkennen, bedeutet mir sehr viel.
In der Türkei wächst der Druck auf Journalisten. Wie schätzen Sie die Lage der Pressefreiheit in Ihrem Land ein?
Als ich 2011 im Gefängnis war, waren in der Türkei insgesamt 102 Journalisten inhaftiert. Das war damals Weltrekord. Danach wurden die Gesetze zwar nicht reformiert, aber es gab zahlreiche Freilassungen. Momentan sind etwa 25 Journalisten in Haft. Allerdings deuten genügend Beispiele darauf hin, dass auch Journalisten, die nicht inhaftiert sind, an ihrer Arbeit gehindert werden und sich unter Druck gesetzt fühlen. Was wirklich schrecklich ist, neben dem intoleranten Umgang der Regierung mit der Presse: Es gibt auch Journalisten, die Journalisten bedrohen und angreifen. Das sind jene Journalisten, die der Regierung nahestehen. Sie werden unterstützt. In der Türkei gibt es Versuche, die Meinungs- und Pressefreiheit zu unterdrücken. Doch die unabhängigen Journalisten versuchen, dagegen zu kämpfen und frei zu arbeiten.
Sie wurden 2011 zusammen mit ihrem Kollegen Ahmet Sik im Rahmen der Ermittlungen rund um den Geheimbund "Ergenekon" festgenommen. Sie hatten beide über die Gülen-Bewegung recherchiert und darüber Bücher geschrieben. (Anm. d. Red.: einflussreiche Bewegung rund um den islamischen Prediger Fetullah Gülen, die zu den Weggefährten von Erdogan und seiner AKP gehörte, bevor es zum Bruch zwischen Gülen und Erdogan kam.) Jetzt fordern Zeitungen, die der Gülen-Bewegung nahestehen, mehr Pressefreiheit in der Türkei, denn auch sie spüren den Druck. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?
Ich finde die gegenwärtige Haltung der Journalisten dieser Gülen-nahen Zeitungen heuchlerisch und betrügerisch. Als sie noch gute Beziehungen zur AKP-Regierung pflegten, haben sie sich niemals über Korruption beschwert. Ganz im Gegenteil: Als wir darüber schrieben, haben sie uns vorgeworfen, einen Putsch gegen die Regierung zu organisieren. Sie haben uns vorgeworfen, "Terroristen" zu sein. Einige Journalisten sind tatsächlich deshalb verurteilt und inhaftiert worden. Die Gülen-Bewegung sollte zuerst Selbstkritik üben. Wenn sie damit anfängt, dann würde ich sagen: Ja, ihr seid die wahren Journalisten. Wir, die unabhängigen Journalisten, können jeden kritisieren - und darin liegt unsere Macht.
Die vorgezogenen Wahlen in der Türkei am 1. November rücken näher. Glauben Sie, dass sich nach der Wahl etwas ändert?
Nein. Ich denke, das Ergebnis wird mehr oder weniger gleich sein wie bei der Wahl am 7. Juni. Aber wer wird mit wem eine Koalition bilden? Darüber wird eher diskutiert. Eine Koalition zwischen Erdogans AKP und der CHP (Republikanische Volkspartei) ist nicht so wahrscheinlich, die wahrscheinlichste Option ist, dass die AKP mit der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) eine Koalition bildet.
Nedim Sener ist einer der renommiertesten Journalisten der Türkei und hat mehr als ein Dutzend Bücher veröffentlicht. Durch seine Recherchen über Korruption, Betrug und Geheimdienste ist er mehrmals mit den türkischen Behörden in Konflikt geraten. 2011 wurde er verhaftet unter dem Vorwurf, Mitglied eines terroristischen Geheimbundes namens "Ergenekon" zu sein. Ein Jahr später wurde er aus der Haft entlassen.
Der Leipziger "Preis für Freiheit und Zukunft der Medien" der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig wurde 2015 an Nedim Sener und den iranischen Filmemacher Jafar Panahi verliehen.
Das Gespräch führte Basak Özay.