Woyzeck Multikulti
13. Juli 2013Eine Reinigungstruppe im Berliner Untergrund. In den Schächten der U-Bahn, den Eingeweiden der Stadt, putzen sie den Dreck vom Boden: drei Männer, einer von ihnen ist Woyzeck. Wenn er ans Tageslicht kriecht, zeigt sich die Welt nicht freundlicher. In einem Restaurant verdient Woyzeck sich etwas dazu. Der Chef drangsaliert ihn, die Gäste blicken auf ihn herab. Und schließlich ein dritter Job. Ein skrupelloser Arzt testet Medikamente an Menschen: Woyzeck als Versuchskaninchen des 21. Jahrhunderts. Doch die drei Jobs bringen Geld. Das braucht Woyzeck. Für Marie und das gemeinsame Kind spart er. Ein Häuschen will er kaufen, der Familie ein Heim bieten.
Verkehrte Welt
Der gebürtige Bielefelder Nuran David Calis hat den "urdeutschen" Stoff Woyzeck in die Gegenwart geholt und den Film "Woyzeck" in den Berliner Brennpunkt Wedding verlegt. Den Hut haben hier türkischstämmige Gangs und arabische Caféhausbesitzer auf. Sie kontrollieren das Viertel. Die Unterschicht, das sind im Film die Deutschen, Hartz-IV-Empfänger, Streuner, Bettler - oder eben Verzweifelte wie Woyzeck, die sich aus dem Sumpf befreien wollen. Eine verkehrte Welt - oder eben auch nicht, vielmehr Realität in einer deutschen Großstadt 2013: "Diese Geschichte spielt nicht irgendwo in einem Slum von Mexiko City oder Mumbai", sagt Calis: "Sie spielt direkt hier. Vor unserer Haustür. Mitten in der Wohlstandsfestung Europa. Mitten in der Hauptstadt: Berlin. In Wedding. Im Hier und Jetzt."
Calis kennt sich aus im Milieu. Seine Mutter ist türkische Jüdin. Der Vater Armenier. Die Mutter konvertierte zum Christentum. Geboren wird Nuran David in Deutschland, in tiefster Provinz in Bielefeld. Dann zieht die Familie wieder in die Türkei, kommt später zurück nach Deutschland, bemüht sich um Asyl. Der Vater ist Gießer, die Mutter putzt. Der junge Nuran David verdient sich Geld als Türsteher und irgendwann verschlägt es ihn zum Theater. Dort hat er Erfolg. Mit Neuinterpretationen von Klassikern. Aber auch mit Stücken aus dem Alltag, die er selbst schreibt und mit Laien besetzt. Einen Roman verfasst er auch, in dem viel selbst Erlebtes verarbeitet wird. Außerdem inszeniert er Fernsehfilme.
Was heißt Migrationshintergrund?
Regisseure wie Nuran David Calis werden gerne als Künstler mit Migrationshintergrund vorgestellt. Doch was ist das? Calis lebt wie andere aus seiner Generation schon lange in Deutschland, ist hier geboren. Natürlich sind seine Bühnenstücke und Filme anders. Was bedeutet Migrationshintergrund für die Kunst?
"Ich will versuchen ein anderes Bild von Deutschland und den Menschen da draußen zu vermitteln", sagt der Regisseur. Man spürt, dass sich Calis nicht wohlfühlt in einer Rolle, die ihm und anderen von den Medien gern aufgedrängt wird.
Abbild der Gesellschaft
"Woyzeck", sagt Calis, sei ein Stück "das Fragen nach der kulturellen, nach der 'deutschen' Identität stellt. Dem Fatalismus der Armen, den Verlierern und der daraus resultierenden Hilflosigkeit möchte ich durch die Geschichte, die Büchner vor knapp 180 Jahren geschrieben hat, noch einmal Raum geben." Calis erzählt Geschichten wie diese, weil sie ihm auf den Nägeln brennen. Das hat nicht unbedingt etwas mit seiner Herkunft zu tun, eher mit einem Interesse an gesellschaftlichen Zusammenhängen. "Ich will überprüfen, ob unsere Welt sich nach wie vor an diesem Abgrund befindet. Und wenn ja, wie tief der Mensch in diesen Abgrund fallen kann", sagt Calis. Büchners Woyzeck sei ein detailreiches "computertomografisches Abbild" unserer Gesellschaft und zeige, woran unsere Gesellschaft erkrankt ist.
Natürlich fallen solche Filme anders aus als von Regisseuren aus einer gutbürgerlichen deutschen Mittelschicht, von jungen Frauen und Männern, die eine Filmhochschule besucht haben und sich dann eines Themas annehmen. "Woyzeck" lief im Frühsommer 2013 beim Festival des Deutschen Films in Ludwigshafen. Filmkritiker Rüdiger Suchsland hat das Programm mitgestaltet, kennt andere Regisseure mit Migrationshintergrund: "Es hat sich vieles verändert in den letzten 20 Jahren, auch dadurch, dass die Zeit der ersten Gastarbeiter weiter zurückliegt. Wir haben inzwischen eine dritte und eine vierte Generation, auch bei den Filmemachern, bei den Schauspielern."
Normalität statt Didaktik
Diese Regisseure gingen inzwischen ganz anders um mit diesen Themen, sagt Suchsland. Früher hätten solche Filme oft eine "didaktische Ader" gehabt. Das Thema Ausländer sei immer in den Mittelpunkt gerückt worden, was oft sehr bemüht gewirkt habe. "Heute ist das alles viel selbstverständlicher. Heute hat man auch nicht den Eindruck, wenn ein Ausländer eine Rolle spielt, dass das eine Alibifigur ist. Es ist ganz normal."
Emotionaler und expressiver
Regisseure wie Nuran David Calis oder der noch viel berühmtere Fatih Akin bringen sicherlich etwas ganz Eigenes mit, wenn sie hinter der Kamera stehen. Davon ist auch Rüdiger Suchsland überzeugt: "Es ist teilweise expressiver, ein bisschen emotionaler, bis hin zur Auswahl der Filmmusik."
Entscheidend in der heutigen globalisierten Filmwelt ist aber etwas ganz anderes: Hat der Regisseur einen Zugang zum Thema gefunden, hat er es so umgesetzt, dass es den Zuschauer packt? Kann er dem Stoff Neues hinzufügen, geht er ästhetisch andere Wege? Das hängt nicht unbedingt davon ab, ob ein Filmregisseur türkischstämmige Eltern hat oder aus einem deutschen Elternhaus stammt. Calis hat dem Woyzeck-Stoff zweifellos zu neuem Leben verholfen.