Wolodymyr Selenskyjs rasanter Aufstieg
21. April 2019Der Spruch, wer zuletzt lacht, lacht am besten, trifft auf Wolodymyr Selenskyj doppelt zu. Der Mann, der seit Jahren hauptberuflich Menschen zum Lachen bringt, hat offenbar die Präsidenten-Stichwahl in der Ukraine an diesem Sonntag gewonnen. Der 41-Jährige erreichte nach ersten Hochrechnungen der Behörden 72 Prozent der Stimmen. Amtsinhaber Petro Poroschenko hat seine Niederlage eingeräumt.
Wie ein Komiker zum Kandidaten wurde
Der Mann, der nun im Mai als sechster Präsident der früheren Sowjetrepublik vereidigt werden soll, hat das bereits einmal durchgemacht - im Kino. Als Hauptdarsteller der beliebten TV-Comedyserie "Diener des Volkes" spielte Selenskyj einen Schullehrer für Geschichte, der zufällig Präsident wird. Viele Beobachter meinen, dass diese Serie zum Erfolg von Selenskyj wesentlich beigetragen hat. Sie spielt mit Klischees über die korrupte ukrainische Politik, mit Sehnsüchten nach Rache am Establishment und nach einem Neuanfang mit einem Quereinsteiger. Genau so positionierte er sich im Wahlkampf.
Mit 41 Jahren wird Selenskyj der jüngste Präsident der Ukraine sein. Er ist ein kleiner quirliger Mann mit einer markanten, angenehm rauen Stimme. Der Sohn eines Hochschulprofessors aus Krywyj Rih, dem Herz der Eisenerzindustrie im Südosten der Ukraine, ist der wohl bekannteste und erfolgreichste Comedian des Landes. Seine Königsdisziplin: politische Satire. Seit fast 20 Jahren zieht Selenskyj zusammen mit einem Team von Kabarettisten die Spitzenpolitiker des Landes durch den Kakao. Neben Bühnenshows fürs Fernsehen produzieren sie Spielfilme und Comedyserien.
Kritiker sehen in Selenskyj keine selbstständige politische Figur. Sie vermuten eine Allianz zwischen dem Komiker und dem einst einflussreichen Geschäftsmann Ihor Kolomojskyj aus Dnipro, dem früheren Dnipropetrowsk. Ziel dieser angeblichen Allianz sei es, die Wiederwahl von Poroschenko zu verhindern. Beide bestreiten vehement jede politische Zusammenarbeit bei der Präsidentenwahl.
Mit Videobotschaften zum Sieg
Nicht nur Selenskyjs Kandidatur, auch sein Wahlkampf war ungewöhnlich. Klassische Auftritte auf Marktplätzen gab es kaum. Stattdessen tourte er vor dem ersten Wahlgang mit seinem Showprogramm durch das Land, während der TV-Sender von Kolomojskyj diverse Comedy-Sendungen mit dem Kandidaten ausstrahlte. Selenskyj gab kaum Interviews, sprach meist mit wohlgesonnenen Medien und kommunizierte mit seinen Anhängern per Videobotschaften in sozialen Netzwerken. Mit kreativen Wahlslogans und Jugendsprache gelang es ihm, die sonst eher passiven jungen Ukrainer im Osten zu mobilisieren.
Vor der Stichwahl wurde der Ton seiner Botschaften gegenüber Poroschenko immer aggressiver. Selenskyj wirkte wie ein Jäger, der eine verletzte Beute jagt. Dabei vermied er jede Gelegenheit, kritische Fragen über seine nebulösen Politikvorstellungen beantworten zu müssen und schickte etwa in Talk-Shows seine Berater.
Einem TV-Duell mit Poroschenko stimmte Selenskyj zwar zu, stellte aber Bedingungen, wie etwa Stadion statt Fernsehstudio.
Sein Wahlprogramm lässt nur erahnen, was nun auf das Land zukommen könnte. Selenskyj verspricht eine "Ukraine der Träume": ein Land ohne Korruption, mit hohen Gehältern und Renten sowie schnellem Internet und guten Straßen. Es soll mehr "Macht fürs Volk" geben, also mehr Volksabstimmungen, mehr Gerechtigkeit und mehr Sicherheit. Der Krieg in der Ostukraine soll beendet werden. Darüber, wie genau, sagt der erfolgreiche Kandidat bisher wenig. Das offensichtliche Kalkül: möglichst vielen Wählern zu gefallen.
Folge einer Enttäuschung über Politik
Doch eine geschickte Medienstrategie wäre keine ausreichende Erklärung für seinen Erfolg. Die Wurzel liegt wohl in der ukrainischen Politik, die seit Jahrzehnten ein desaströses Image hat. Auch der in weiten Teilen der Bevölkerung unbeliebte bis verhasste Poroschenko muss sich fragen, ob er seine Chance für die Wiederwahl richtig eingeschätzt hatte.
Diejenigen Ukrainer, die eine treibende Kraft hinter dem Machtwechsel 2014 waren und sich als prowestliche Patrioten verstehen, blicken mit einer Mischung aus Sorge und Verzweiflung auf den Erfolg von Selenskyj. Zum einen, so die Stimmung in sozialen Netzwerken, sei er ein russischsprachiger Komiker, der ukrainischen Patriotismus karikiert hatte. Seit der Krim-Annexion war die Abkehr von Russland und russischer Sprache im Fokus der ukrainischen Politik. Zum anderen sei Selenskyj unerfahren und könne das Land in eine Krise führen, so die Befürchtung. Manche warnen vor einer schleichenden Revanche der Kräfte aus dem Umfeld des nach Russland geflüchteten Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch.
Eine der größten Unbekannten ist, wie selbständig Selenskyj als Präsident und wie groß der Einfluss seiner Berater und Oligarchen sein wird. Dieser Sieg bei der Präsidentenwahl dürfte ihm jedenfalls nicht ausreichen, um das Land zu regieren. Im Herbst stehen Parlamentswahlen an und es wird in Kiew darüber spekuliert, dass er sie vorziehen könnte, um seine bisher eher auf dem Papier existierende eigene Partei ins Parlament zu bringen. Sie ist benannt nach der Fernsehserie "Diener des Volkes" und hätte gute Chancen.