Selenskyj: Wahlerfolg dank TV-Serie?
4. April 2019Für wen haben 30 Prozent der Ukrainer in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 31. März denn nun wirklich gestimmt: für den politischen Newcomer Wolodymyr Selenskyj - oder für Wasyl Holoborodko, den Protagonisten der Comedy-Serie "Diener des Volkes"? Selenskyj spielt in der Serie den Geschichtslehrer Holoborodko, der zum Präsidenten gewählt wird und gegen das etablierte Machtgefüge im Lande vorgeht. Fakt ist, dass Selenskyj im Wahlkampf das Image des TV-Helden nutzte, als hätte er den Wählern sagen wollen: "Holoborodko bin ich".
Ein Bild aus der Serie - Selenskyj in seiner Rolle als Holoborodko, mit Aktentasche unter dem Arm - ist auf der Webseite des Kandidaten zu sehen. Dasselbe Foto verwendet sein Team auch auf Facebook. "Diener des Volkes" steht auf Werbematerial des Showmans. Unklar bleibt, ob die TV-Serie oder die gleichnamige Partei gemeint ist, die 2017 gegründet wurde und Selenskyj als Spitzenkandidaten aufgestellt hat. Die Serie selbst - die erste Staffel lief im Herbst 2015 - wurde kurz vor den Wahlen im ukrainischen Privatsender "1+1" wiederholt. Und die neueste, die bereits dritte Staffel, lief wenige Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen an.
Aus TV wird Wirklichkeit
Auf die Frage der DW, inwiefern die TV-Serie zu Selenskyjs Erfolg beigetragen hat, nennt Wolodymyr Paniotto vom Kiewer Internationalen Institut für Soziologie (KIIS) als Beispiel die dänische Serie "Borgen - Gefährliche Seilschaften". Sie lief erstmals 2010 in Dänemark und handelt ebenfalls von Intrigen und Machtspielen in der Politik. Im Mittelpunkt steht eine Politikerin, die unerwartet zur ersten Premierministerin Dänemarks gewählt wird. Ein Jahr später wurde tatsächlich eine Frau, Helle Thorning-Schmidt, erste Regierungschefin des Landes. "Faktisch wurde Wirklichkeit, was in der Serie passierte; die Menschen waren darauf vorbereitet", erläuterte Paniotto.
Ihm zufolge könnte in der Ukraine sowohl das Image von Holoborodko als auch das von Selenskyj persönlich beim Wahlerfolg eine Rolle gespielt haben - der Traum, dass ein einfacher, ehrlicher, wenn auch nicht qualifizierter Mann Präsident wird. Paniotto sieht aber auch noch weitere Faktoren für Selenskyjs Erfolg.
"Opposition gegen das Establishment"
In einer Umfrage vor den Wahlen fand das KIIS heraus, warum so viele Ukrainer für Selenskyj sind. 54 Prozent der Befragten sagten: "Weil er nicht zum etablierten System gehört und ein neues Gesicht in der Politik ist." Nur sechs Prozent gaben an, Selenskyj gefalle ihnen in der Rolle des Präsidenten, die er in der Serie spielt. Paniotto sagte, dies zeige, dass die Serie dem Showman zwar helfe, doch nicht ausschlaggebend für seinen Erfolg gewesen sei. Man müsse, so Paniotto, alles berücksichtigen, was Selenskyjs Firma "Studio Quartal-95" in den letzten 15 Jahren produziert hat, darunter die führende Satire-Show in der Ukraine. "Sein Team, das sich in der Politik offenbar sehr gut auskennt, macht sich darin ständig über Politiker lustig", sagt Paniotto und fügt hinzu, Selenskyj wirke auf seine Zuschauer überhaupt nicht inkompetent.
Auch Andrij Bytschenko vom Kiewer Rasumkow-Forschungszentrum glaubt nicht, dass die TV-Serie "Diener des Volkes" Selenskyjs Wahlergebnis entscheidend beeinflusst hat. "Es gibt zwischen der Serie und anderen Produktionen von Quartal-95 Synergieeffekte, die sich gegenseitig verstärken", so Bytschenko. Seiner Meinung nach ist Selenskyj irgendwann zum "Inbegriff einer Opposition gegen das Establishment" geworden. Quartal-95 sei in der Ukraine fast die einzige Quelle von Kritik an der Staatsmacht "aus Sicht des Volkes". "Das hat Selenskyj letztlich geholfen", so Bytschenko.
Range Rover statt Fahrrad
Diana Duzyk, Medienexpertin am Ukrainischen Institut für Medien und Kommunikation, meint auch, Selenskyjs Erfolg hänge nicht nur mit der TV-Serie "Diener des Volkes" zusammen. "Über viele Jahre hat Quartal-95 eine ganze Generation von Ukrainern geprägt, die über Politik nur aus den Shows der Produktionsfirma erfuhren", so Duzyk. Das seien meist unpolitische Menschen, die sich Unterhaltungsshows anschauen würden.
Duzyk findet, ein Element von Selensykjs-Kampagne sei die "Primitivisierung der Politik". So fahren in der TV-Serie "Diener des Volkes" der Präsident mit dem Fahrrad zur Arbeit. "Das ist eine primitive Vorstellung", so die Expertin. Der wahre Selenskyj fahre nie Rad, sondern einen teuren Range Rover samt Bodyguards. "Sollte er Präsident werden, wird er nicht aufs Fahrrad umsteigen", so Duzyk.
Sie ist überzeugt, dass die Ausstrahlung der Serie "Diener des Volkes" im Vorfeld der Wahlen "Teil des Wahlkampfs" sei, sich aber in einer "Grauzone" der ukrainischen Gesetzgebung befinde. Ihrer Meinung nach sollten die Gesetze nach den Wahlen unter Berücksichtigung von Selenskyjs Kampagne geändert werden.