Wird Wikileaks-Gründer Julian Assange ausgeliefert?
20. Februar 20241776 Tage. So lange wird Julian Assange bereits im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh festgehalten, wenn an diesem Dienstag die möglicherweise letzte Anhörung im Tauziehen um seine Auslieferung an die USA beginnt. Auch davor war der 52-jährige Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks nicht in Freiheit: Er saß sieben Jahre im Botschaftsasyl der ecuadorianischen Botschaft in London fest. Geht es nach der US-Anklagebehörde, kommen 175 Jahre Haft dazu.
Die Anhörung vor dem High Court in London beschäftigt sich mit der Frage: Hat Assange bereits sämtliche Rechtsmittel gegen seine drohende Auslieferung an die USA ausgeschöpft? Oder kann er weiter vor britischen Gerichten dagegen vorgehen?
Macht der High Court den Weg zur Auslieferung frei, könnte Assange in den USA nach dem so genannten Espionage Act angeklagt und verurteilt werden. Das Gesetz wurde vor über hundert Jahren erlassen, um im Ersten Weltkrieg Landesverräter und Spione zu verurteilen. Noch nie zuvor war es gegen einen Journalisten angewandt worden. Der Vorwurf: gemeinsam mit der Whistleblowerin Chelsea Manning geheimes Material von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan gestohlen und veröffentlicht zu haben. Dies habe auch das Leben von US-Informanten in Gefahr gebracht, sagen die US-Behörden. Der heutige US-Präsident und damalige Vize-Präsident Joe Biden sprach 2010 von Assange sogar als einem "High-Tech-Terroristen".
Dass komplette, unredigierte Datensätze veröffentlicht wurden, hat allerdings nicht Julian Assange zu verantworten. Wikileaks hatte 2010 mit einer Koalition großer Medienorganisationen - "The New York Times", "The Guardian", "Le Monde", "Der Spiegel" und "El País" - zusammengearbeitet, um die geleakten Informationen journalistisch zu bearbeiten. Das Passwort zu dem geschützten Datensatz wurde von einem der beteiligten Journalisten in einem Buch bekannt gemacht. Wikileaks veröffentlichte den Datensatz erst, als die Informationen ohnehin zugänglich waren. Die US-Regierung hat bisher keine Beweise dafür vorgelegt, dass jemandem durch die Veröffentlichung tatsächlich ein Schaden entstanden ist.
Die US-Regierung versucht zudem, Assange den Status eines Journalisten abzuerkennen. Er habe Datenmengen ohne Kontext veröffentlicht, heißt es; er sei ein Hacker. Allerdings hat Assange zahlreiche Medienpreise gewonnen. Und: Es spielt für die US-Anklage keine Rolle; der Espionage Act unterscheidet nicht zwischen Journalisten und anderen Personen.
Ungeschminkte Wahrheit
Wahr ist allerdings: Die Wikileaks-Veröffentlichungen waren sehr unangenehm für die US-Regierung. Hunderttausende geheimer Unterlagen zeigten der Welt eine andere, ungeschminkte, blutige Seite vom Vorgehen des US-Militärs. Eine Seite, in der Kriegsverbrechen verübt - und vertuscht - wurden, in der die Zahl ziviler Opfer deutlich höher war als in den geschönten Angaben des Pentagon.
Veröffentlichungen allerdings, die eine lebendige Demokratie aushalten muss. Das finden zumindest alle Menschenrechts-, Bürgerrechts-, und Journalismus-Organisationen von Rang, angefangen von Amnesty International über das Committee to Protect Journalists, CPJ, bis hin zu Reporter ohne Grenzen. Die beiden Dachorganisationen International Federation of Journalists, IFJ, und European Federation of Journalists, EFJ, warnten noch vor wenigen Tagen in einer gemeinsamen Erklärung: "Die laufende Verfolgung von Julian Assange gefährdet die Medienfreiheit überall auf der Welt". EFJ-Präsidentin Maja Sever lässt sich mit der Aussage zitieren: "Journalisten und ihre Gewerkschaften haben von Anfang an erkannt, dass Julian Assange ins Visier genommen wird, weil er Aufgaben erfüllt, die zur täglichen Arbeit vieler Journalisten gehören - einen Whistleblower zu finden und Kriminalität aufzudecken."
Weltweite Unterstützung für Assange
Weltweit mehren sich die Stimmen, die sich gegen die Verfolgung Assanges durch die USA und für seine Freilassung aussprechen. Allein in der Woche vor dem Gerichtstermin hat das australische Parlament eine Resolution zur Freilassung des australischen Staatsbürgers Assange verabschiedet, unterstützt von Premierminister Anthony Albanese; hat die italienische Hauptstadt Rom Julian Assange die Ehrenbürgerwürde verliehen; hat eine Gruppe von über 35 US-amerikanischen Jura-Professoren in einem offenen Brief an US-Justizminister Merick Garland gewarnt, die Verfolgung Assanges unter dem Espionage Act bedrohe den ersten Verfassungszusatz zum Schutz der freien Presse und freien Meinungsäußerung.
Christian Mihr sieht das ebenso. Der DW sagt der stellvertretende Generalsekretär von Amnesty International Deutschland: "Im Fall Julian Assange geht es um grundsätzliche Fragen der Medienfreiheit und der Menschenrechte. Julien Assange hat sich keines Verbrechens schuldig gemacht, Wikileaks hat Menschenrechtsverletzungen enthüllt, und das ist kein Verbrechen." Gemeinsam mit Reporter ohne Grenzen, deren Vorsitzender Mihr ein Dutzend Jahre war, plant Amnesty am ersten Tag der Anhörung eine Demonstration vor der US-Botschaft in Berlin.
Kritische Stimmen in der deutschen Politik
Auch unter deutschen Politikern wird Kritik an der Verfolgung Julian Assanges laut. Der Grünen-Abgeordnete Max Lucks spricht gegenüber der DW von Julian Assange als politischem Gefangenen. Dass der Wikileaks-Gründer seit knapp fünf Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh mit seinen harten Haftbedingungen festgehalten wird, und mit der Aussicht auf eine mögliche Auslieferung an die USA, dafür findet Lucks klare Worte: "Was da passiert, ist Folter. Es gibt keinen rationalen Grund für diese Inhaftnahme von Herrn Assange. Es ist politisch motiviert." Eine Einschätzung, die Lucks mit anderen prominenten Politikern und Fachleuten teilt, wie etwa dem früheren UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, oder dem ehemaligen deutschen Außenminister Sigmar Gabriel.
Lucks gehört zu den Initiatoren eines offenen Briefes an das britische Parlament, in dem vor zwei Jahren mehr als 80 Bundestagsabgeordnete die Freilassung Assanges gefordert haben. "Journalistinnen und Journalisten dürfen für ihre Arbeit nicht verfolgt und bestraft werden. Nirgendwo", hatte der Brief begonnen. Die Unterzeichner zeigten sich "sehr besorgt über den abschreckenden Effekt, den die Auslieferung und Verurteilung von Assange auf die Pressefreiheit und auf den investigativen Journalismus weltweit haben könnte". Eine Antwort auf ihr Schreiben haben die Abgeordneten nie bekommen.
Vorwurf: Doppelstandards
Zu den Unterzeichnern des Briefes gehört auch Peter Heidt. Heidt ist Sprecher für Menschenrechte der FDP-Fraktion. Wenn Heidt in dieser Funktion im Ausland Kritik an mangelndem Schutz der Menschenrechte anspricht, erlebt er immer wieder, dass mit dem Verweis auf die Verfolgung des Wikileaks-Gründer gekontert wird. Verbunden mit dem Vorwurf, Deutschland, der Westen vertrete doppelte Standards. "Das kriegen Sie überall gesagt; da können Sie reden, mit wem sie wollen", bekräftigt der Parlamentarier seine Erfahrung im DW-Interview.
Peter Heidt beendet seit Jahren seine Reden im Bundestag mit dem immer gleichen Satz: "Im Übrigen bin ich der Auffassung, Julian Assange sollte sofort freigelassen werden."
Die Parlamentarier Peter Heidt und Max Lucks sind beide Angehörige von Regierungsparteien. Doch von Regierungsseite ist in Sachen Assange wenig zu hören. Dabei hatte nur wenige Wochen nach dem offenen Brief im Sommer 2022 der Bundestag mit einem Beschluss die "politische Verfolgung" des Journalisten als Angriff auf die Pressefreiheit verurteilt. Zudem rief er die Bundesregierung dazu auf, sich für Assanges Freilassung und die Nichtauslieferung an die USA einzusetzen.
Bundesregierung "verfolgt" Auslieferungsprozess
Auf Nachfrage erklärt die Regierung lediglich knapp, sie verfolge den Auslieferungsprozess gegen Julian Assange sowie die öffentliche Diskussion über den Fall "aufmerksam" und "kontinuierlich". Zum laufenden Verfahren sowie zu den Inhalten vertraulicher Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Regierungen allerdings äußere sie sich "grundsätzlich nicht", schrieb die Bundesregierung Ende letzten Jahres in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke.
Das Äußerste an Kritik am Verfahren gegen Assange seitens der Bundesregierung klingt wie diese Äußerung eines Außenamts-Sprechers von Anfang Dezember in der Bundespressekonferenz: "Wir haben ein anderes Verständnis von Pressefreiheit, als das in den USA definiert würde. Bei uns wären die Dinge, die Herr Assange getan hat, nicht strafbewehrt."
Der Sprecher verwies außerdem auf das weiterhin laufende Gerichtsverfahren. Und darauf, dass möglicherweise auch noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angerufen werden könnte. Für Assange zwar ein Trost, aber ein schwacher: Denn er würde bei dem dann folgenden jahrelangen Verfahren weiterhin in britischer Haft bleiben. Nach zwölf Jahren ohne Freiheit. Der Investigativjournalist Günter Wallraff meint: "Man spielt auf Zeit. Er soll einen Tod auf Raten sterben."