"Wir werden Sie nach Hause bringen"
20. August 2021Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat US-Präsident Joe Biden Amerikanern und einheimischen Helfern der USA die Ausreise aus dem Land versprochen. An die Adresse seiner Landsleute gerichtet, sagte Biden im Weißen Haus: "Wir werden Sie nach Hause bringen." Auf Nachfrage fügte der US-Präsident hinzu, diese Zusage gelte auch für Afghanen, die den US-Einsatz in dem Land unterstützt oder für Hilfsorganisationen gearbeitet hätten.
Wie geht es im September weiter?
Biden sagte, seit dem Start der Evakuierungsmission vor etwa einer Woche hätten die USA rund 13.000 Menschen ausgeflogen. Nach Angaben des Weißen Hauses vom Freitag waren es allein in den vorangegangenen 24 Stunden 5700 Menschen. Der Präsident wollte sich nicht festlegen, ob die Evakuierungsmission der USA über den 31. August hinaus verlängert werden. Er gehe davon aus, dass die Evakuierungen bis dahin abgeschlossen werden könnten, werde dazu aber später eine Entscheidung treffen.
Die Bundeswehr hat inzwischen fast 1900 Menschen über eine Luftbrücke in Sicherheit gebracht. Es ist der bislang größte Evakuierungseinsatz der Bundeswehr, wie Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer betonte.
Die NATO plant die Einrichtung von Aufnahmelagern für ausgeflogene afghanische Helfer. "Wir diskutieren unterschiedliche Orte für die vorübergehende Unterbringung von Afghanen", sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg nach Beratungen der NATO-Außenminister. Mehrere Alliierte hätten zudem bereits ihre Bereitschaft signalisiert, auch längerfristig frühere afghanische Helfer der NATO aufzunehmen. Der Deutschen Welle sagte Stoltenberg: "Wir erwarten von den Taliban, dass sie freien Abzug gewähren." Man habe "politische, diplomatische Werkzeuge und auch Sanktionen, um die Taliban dazu zu bewegen, ihre Verpflichtungen zu erfüllen".
Die Vorsitzende der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission, Schaharsad Akbar, kritisierte das Chaos bei der Evakuierung von gefährdeten Afghanen. Es sei extrem schwierig, zum Flughafen in Kabul zu gelangen. Dort wiederum gebe es zu wenig Koordination zwischen den Nationen, die Menschen ausflögen, und denjenigen, die den Flughafen schützten. Ihre Organisation beispielsweise habe 90 hoch gefährdete Mitarbeiter identifiziert. 20 davon hätten Zusagen für Evakuierungsflüge bekommen. "Wir waren nicht in der Lage, auch nur eine einzige Person zu evakuieren."
"Warum wurde das nicht besser gemacht?"
Akbar sagte weiter: "Die Befürchtung ist, dass der Flughafen, dass alles den Taliban überlassen wird und dass die Menschen der Gnade der Taliban ausgeliefert sein werden und dass es zu Massakern kommt, wenn die ausländischen, die westlichen Bürger evakuiert wurden." Sie fügte hinzu: "Wenn die USA den Abzug ihres gesamten Militärs planten, warum wurde das nicht besser gemacht? Diese ganze Abzugssituation wurde von Anfang an schlecht gehandhabt."
Auf dem Weg zum Flughafen erlitt ein Deutscher, ein Zivilist, eine Schussverletzung. Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer sagte in Berlin: "Er wird medizinisch versorgt, es besteht aber keine Lebensgefahr." In der Nähe des Flughafens wurde ein weiterer Deutscher leicht verletzt. Zuvor hatte eine Beraterin der afghanischen Mission bei den Vereinten Nationen in den USA auf Twitter geschrieben, einem Familienmitglied sei am Flughafen Kabul in den Kopf geschossen worden.
In einem Schreiben der deutschen Botschaft an Menschen, die auf einen Flug hoffen, heißt es: "Die Lage am Flughafen Kabul ist äußerst unübersichtlich. Es kommt an den Gates immer wieder zu gefährlichen Situationen und bewaffneten Auseinandersetzungen. Der Zugang zum Flughafen ist derzeit möglich. Zwischendurch kann es aber immer wieder kurzfristig zu Sperrungen der Tore kommen, auch weil so viele Menschen mit ihren Familien versuchen, auf das Gelände zu kommen."
Angst vor Racheakten geht um
Die Taliban suchen laut einem für die Vereinten Nationen erstellten Bericht gezielt nach vermeintlichen Kollaborateuren. In dem Bericht des RHIPTO Norwegian Center for Global Analyses, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, heißt es, dem größten Risiko seien Menschen ausgesetzt, die wichtige Positionen im Militär, der Polizei oder anderen Ermittlungsbehörden eingenommen hatten.
Die Beteuerungen der Taliban, keine Vergeltungsaktionen vornehmen zu wollen, hält der Leiter der Denkfabrik, Christian Nellemann, nicht für glaubhaft. "Sie versuchen einfach, die Leute an Ort und Stelle zu halten, um sie festnehmen zu können", so Nellemann. Mehrere Vertreter der bisherigen afghanischen Regierung werden einem lokalen Medienbericht zufolge vermisst.
Der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) liegen nach eigenen Angaben Berichte über "standrechtliche Hinrichtungen" durch die Taliban vor. Bei den mutmaßlichen Opfern handele es sich um frühere afghanische Regierungsmitarbeiter und Sicherheitskräfte, sagte die Vizedirektorin für HRW in Asien, Patricia Gossman.
haz/gri (dpa, rtr)