Stoltenberg: Afghanistan nicht Krise der NATO
20. August 2021"Wir haben bereits Tausende aus Afghanistan herausbekommen. Wie können wir jetzt Fortschritte bei der entscheidenden Frage erzielen, nämlich die Menschen zum Flughafen zu bringen und durch den Flughafen zu schleusen? Jetzt müssen wir mehr Fortschritte erzielen. Es mangelt nicht an Flugzeugen. Viele Alliierte haben erklärt, sie würden Menschen aufnehmen. Das Problem ist: Wie bekommen wir sie dahin?", sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in einem Interview mit der Deutschen Welle zur Lage am Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul. Nach einer virtuellen Sondersitzung der Außenminister der 30 NATO-Staaten sagte Stoltenberg der DW weiter: "Es ist offensichtlich, dass die Lage außerhalb des Flughafens chaotisch, schwierig und nicht vorherzusagen ist. Es ist gut, dass wir wenigstens im Flughafen jetzt mehr Kontrolle haben."
USA wollen Zugangs-Probleme beseitigen
Offenbar gibt es an den Zugängen zum Flughafen Kabul aber auch Probleme bei Absprachen der NATO-Staaten untereinander. Der deutsche kommandierende General in Kabul, Jens Arlt, hatte kritisiert, dass US-Truppen möglicherweise Personen am Flughafen abweisen könnten, die von der Bundeswehr für einen Transport vorgesehen waren. "Genau deshalb war es wichtig, dass wir diese Sitzung heute hatten, um genau diese Fragen auf höchster Ebene zu besprechen", antwortete der NATO-Generalsekretär im DW-Interview. "Ich weiß, dass die USA und andere Alliierte hart daran arbeiten, diese Probleme zu beseitigen, damit wir mehr Menschen in den Flughafen bekommen, abfertigen und aus Afghanistan herausbekommen können." Die NATO koordiniere dieses Bemühen und viele Verbündete würden sich gegenseitig helfen. Der NATO-Botschafter in Afghanistan und auch ziviles Personal der NATO seien am Flughafen im Einsatz. "Sie arbeiten hart, um zu koordinieren", versicherte Jens Stoltenberg.
Die NATO hatte am Freitag angegeben, dass bis gestern etwa 18.000 Personen - Angehörige von NATO-Staaten, verbündeten Staaten und afghanische Staatsbürger - ausgeflogen werden konnten. US-Präsident Joe Biden rechnet damit, dass rund 80.000 Personen ausgeflogen werden müssen. Als Ende der Luftbrücke steht immer noch der 31. August, also der übernächste Dienstag, im Raum. Bis dahin sollten eigentlich auch die letzten US-Soldaten abgezogen werden. Viele Außenminister schlugen in der Sondersitzung heute vor, diese Frist zu verlängern, um so viele Menschen wie möglich in die Evakuierung einbeziehen zu können. Eine Reaktion der US-Regierung liegt noch nicht vor.
"Taktische Kontakte" mit Taliban
Berichte, dass die Taliban an ihren Kontrollpunkten rund um den Flughafen mittlerweile Lösegeld für die Afghanen verlangen, die das Land verlassen wollen, konnte Jens Stoltenberg nicht bestätigten. "Wir erwarten von den Taliban, dass sie freien Abzug gewähren", sagte der Generalsekretär. Die NATO habe trotz des Endes des Militäreinsatz immer noch Druckmittel, allerdings weniger als zuvor. "Wir haben politische, diplomatische Werkzeuge und auch Sanktionen, um die Taliban dazu zu bewegen ihre Verpflichtungen zu erfüllen", versicherte Stoltenberg. Man sei mit den Taliban in "operationellen, taktischen Kontakten". Eine Anerkennung einer neuen Regierung gehe damit nicht einher. Die gebe es schließlich noch gar nicht.
Zu einem späteren Zeitpunkt werde die NATO ihre Lehren aus dem Einsatz in Afghanistan ziehen, kündigte der Generalsekretär an. "Das Hauptproblem ist jetzt das Leiden der afghanischen Bevölkerung. Das ist auch schwierig für die NATO. Daran gibt es keine Zweifel. Darum müssen wir uns ehrlich fragen: Welche Lektionen haben wir gelernt?"
Keine Krise der NATO
Die Botschaft dieses Sondertreffens der NATO sei auch gewesen, dass ein starkes Band zwischen Nordamerika und Europa erhalten bleiben müsse, egal was in Afghanistan passiere, sagte Jens Stoltenberg. Einige Alliierte hatten die USA für ihr bilaterales Abkommen über einen Truppenabzug mit den Taliban im Februar 2020 kritisiert. Auch die Entscheidung des neuen US-Präsidenten Joe Biden, ohne Bedingungen bis zum September abzuziehen, hatte das Bündnis im Mai vor vollendete Tatsachen gestellt. "Ja, es gibt eine Krise in Afghanistan, aber die sollte nicht zu einer Krise der NATO werden", mahnte Stoltenberg. "Die USA haben ihren Deal gemacht und danach gab es Konsultationen. Schließlich haben alle zugestimmt, dass wir Afghanistan verlassen sollten." Man habe um das Risiko, dass die Taliban die Macht übernehmen könnten, gewusst, so Stoltenberg. Aber die Alternative wäre gewesen, noch länger mit massiver Militärpräsenz zu bleiben, "mit mehr Gewalt, mehr Gefechten, mehr Toten, inklusive zivilen Opfern."
Die Frage der DW, ob die Taliban, die jetzt die Macht übernommen haben, letztlich den Krieg um Afghanistan gewonnen hätten, beantwortete der Generalsekretär der NATO ausweichend: "Vor bald 20 Jahren haben wir sie angegriffen, weil sie Al-Kaida eine Basis gewährten und internationale Terroristen unterstützt haben. Jetzt haben sie versprochen und zugestimmt, dies nicht noch einmal zu tun. Wir werden das genau beobachten und wachsam sein. Wir haben außerdem die Mittel zu reagieren, falls sie sich nicht an die Abmachung halten."
Jens Stoltenberg (62) ist seit 2014 als Generalsekretär der NATO deren oberster ziviler Repräsentant und für den Interessenausgleich zwischen den 30 NATO-Mitgliedsstaaten zuständig. Der sozialdemokratische Politiker war zuvor Ministerpräsident Norwegens.
Das Interview führte Teri Schultz.