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Politik

Wieder Großdemo gegen Lukaschenko in Minsk

23. August 2020

Mehr als 100.000 Demonstranten sind in Minsk trotz Verbots zu Anti-Regierungsprotesten zusammengekommen. Die Regierung behinderte die Anreise der Demonstranten mit Straßenblockaden. Erstmals ist das Militär in Stellung.

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 Proteste gegen Präsident Lukaschenko in Minsk, Belarus
Demonstration gegen Präsident Lukaschenko und für mehr FreiheitenBild: picture-alliance/dpa/D. Lovetsky

Es ist ein Meer aus Weiß-Rot-Weiß, das sich über die Straßen von Mink verteilt. Es sind die Farben der Opposition - und die der Flagge, die Belarus seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 bis 1995 nutzte. Jetzt sind sie ein Erkennungszeichen der Demonstranten, die seit zwei Wochen für mehr Freiheiten in Belarus eintreten, die eine Wiederholung der umstrittenen Präsidentschaftswahl vom 9. August fordern und den Rücktritt von Staatspräsident Alexander Lukaschenko, der seit 26 Jahren mit harter Hand regiert. 

Streikende Arbeiter der MZKT Fabrik tragen Belarus-Flaggen
Einige Metrostationen wurden von der Regierung blockiert, daher gingen viele zu Fuß ins StadtzentrumBild: picture-alliance/dpa/TASS/V. Sharifulin

"Du, Luka, hast dein Volk verraten" und "Du bist unser Elend" steht auf Schildern der Demonstranten. In Sprechchören skandieren sie "Freiheit" und "Luka hinter Gitter". Nur für einen Moment wird alles still - um 15.30 Uhr Ortszeit. Eine Schweigeminute für diejenigen, die bei den Protesten ums Leben gekommen sind. Mittlerweile sind vier Todesfälle bekannt.

In Agenturmeldungen ist von mehr als 100.000 Demonstranten die Rede. Einige oppositionelle Plattformen im Internet schätzten die Zahl sogar auf 200.000 Menschen. Das wären etwa so viele wie am Sonntag vor einer Woche, als es zum ersten Mal seit der Wahl Proteste dieser Größenordnung gab. DW-Korrespondent Nick Connolly beschrieb die Stimmung am späten Nachmittag als gelöst, einige Teilnehmer hatten demnach ihre Kinder oder Haustiere mitgebracht.

Staat: "Demonstration ist illegal"

Das Innenministerium hatte vor der Demonstration an diesem Sonntag mitgeteilt, dass die "Durchführung von Massenveranstaltungen illegal" sei. "Für die Teilnahme ist vorgesehen, Sie zur Verantwortung zu ziehen", hieß es weiter. Polizeibeamte erinnerten die Demonstranten per Megafon daran. Wie DW-Korrespondent Connolly vom Unabhängigkeitsplatz berichtet, wurden sie von der Menge ausgebuht. 

Das Militär bezieht Stellung am Denkmal für die Opfer des Zweiten Weltkriegs
Das Militär bezieht Stellung am Denkmal für die Opfer des Zweiten WeltkriegsBild: DW/P. Bykouski

Das Militär übernahm die Kontrolle über nationale Denkmäler, um sie "vor den Demonstranten zu schützen". Dies ist ein Novum, bisher wurde gegen die Proteste nur die Polizei eingesetzt, die teils brutal gegen Demonstranten vorgegangen war

"Ich liebe die Freiheit und möchte, dass meine Kinder frei sind", sagt eine junge Demonstrantin der DW. Ein Mann, der Beobachter bei der Wahl war, war von den Ergebnissen schockiert: "Es war eine glatte Lüge. Die Zahlen waren total falsch. Man kann also nicht sagen, dass die Wahl fair war. Das kann ich [der Regierung] nicht vergeben." Seine Freundin ergänzt: "Wir sind die ganzen Lügen leid und können die Worte unseres Präsidenten nicht mehr hören." Die meisten der Demonstranten, mit der die DW sprach, sind fest davon überzeugt, mit den Protesten in ihrem Land etwas ändern zu können.

Junge Demonstrantin in Minsk im DW-Interview
Diese Demonstrantin will Freiheit für sich und ihre Kinder erkämpfenBild: DW/N. Connolly

Wie erwartet versuchte die Regierung den Zugang zur Stadt zu erschweren, berichtet DW-Korrespondent Connolly. So wurden einzelne Fahrbahnen von Straßen gesperrt, die in die Hauptstadt führen, oder es wurden striktere Geschwindigkeitsbegrenzungen eingeführt, die es dort normalerweise nicht gibt. Weil die Sicherheitskräfte viele Metrostationen sperrten, machten sich große Menschengruppen zu Fuß auf den Weg. 

Connolly berichtet, dass im Zentrum der Stadt vorab LKWs der Sicherheitskräfte positioniert wurden, in denen bei früheren Protesten gefangengenommene Demonstranten abtransportiert worden waren. Auch Vans ohne Kennzeichnung und mit getönten Scheiben waren in Stellung gegangen. In der Vergangenheit wurden Demonstranten von Sicherheitskräften in Zivil in solche Kleinbusse gezerrt.

Vorkehrungen bei Festnahme

Die Opposition riet Protestteilnehmern nach Informationen des DW-Korrespondenten, Zettel mit Kontaktdaten von Familie oder Freunden mitzuführen. Sollte es wie in der vergangenen Woche zu Festnahmen kommen, könnten diese Zettel noch weitergereicht oder fallengelassen werden, damit Angehörige über die Festnahme informiert werden können. Der staatlichen Nachrichtenagentur Belta zufolge deutete Präsident Alexander Lukaschenko am Samstag bei einer Veranstaltung in der westbelarussischen Stadt Grodno an, dass ab Montag durchgegriffen werde.

Konvoi der Polizeifahrzeuge vor geplantem Protest in Minsk
LKWs der Polizei wurden vor der geplanten Großdemonstration in Minsk positioniert Bild: picture-alliance/AP Photo/D. Lovetsky

Auf dem zentralen Unabhängigkeitsplatz, dem Treffpunkt der Demonstranten, gab es kaum eine Verbindung zu Mobiltelefonen. "In den vergangenen Wochen war es eine Taktik der Regierung, das mobile Internet abzuschalten, um zu verhindern, dass Fotos und Videos der Demonstrationen nach außen dringen", sagt DW-Korrespondent Connolly.

Lukaschenko dankt Sicherheitskräften

Staatsmedien zeigten am Abend einen Hubschrauberrundflug des Präsidenten und wie Lukaschenko mit einer Kalaschnikow-Maschinenpistole in der Hand in schwarzer Montur den Hubschrauber verließ und zum Präsidentenpalast ging. Später zeigte er sich in schusssicherer Weste an den Absperrungen seines Palastes, um den Sicherheitskräften für ihren Einsatz zu danken.

Ein Autocorso, den die Pro-Regierungsseite in Minsk geplant hatte, wurde abgesagt. Offiziell heißt es, wegen möglicher Provokationen seitens der Opposition. Beobachter vermuten jedoch, dass die Unterstützer der Regierung den direkten Vergleich mit der Gegenseite scheuen. In der Vergangenheit fielen Unterstützungsdemos für die Regierung deutlich kleiner aus, zumal sie oft angeordnet waren und Menschen teils unter Druck gesetzt wurden, damit sie teilnehmen.

Eine alte Dame bei einer Demonstranton in Minsk
Nicht nur junge Belarussen nehmen an der Demo teil - "Zusammen" steht auf der Fahne dieser DemonstrantinBild: Reuters

In Litauen baute sich derweil als Zeichen der Solidarität eine Menschenkette auf über gut 30 Kilometer von der Hauptstadt Vilnius bis zur belarussischen Grenze. Die Veranstalter sprachen von 50.000 Menschen. Kleinere Menschenketten waren auch in Lettland, Estland und Tschechien geplant.

Tichanowskaja unterstützt aus dem Exil

Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja sagte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP, die Geste der Menschenkette bedeute ihr und den Belarussen sehr viel. "Sie spüren diese Unterstützung." Sie rief ihre Landsleute auf, "jetzt vereint weiterzumachen im Kampf für das Recht". Sie sei "stolz auf die Belarussen, weil sie jetzt nach 26 Jahren der Angst bereit sind, ihre Rechte zu verteidigen".

Menschen mit Belarus-Fähnchen und Blumen bilden eine Menschenkette in Litauen
Solidarität aus dem Nachbarstaat: Menschenkette in LitauenBild: Reuters/I. Kalnis

Einige Tage nach der Wahl vom 9. August floh Tichanowskaja nach Litauen. Sie bedankte sich nun bei dem EU-Land für dessen Unterstützung. Sie fühle sich dort "vollkommen sicher", sagte sie der Nachrichtenagentur Baltic News Service. Zu den genauen Umständen ihrer Flucht und eine mögliche Rückkehr in ihre Heimat äußerte sich Tichanowskaja nicht. Der russischen Agentur Tass zufolge hatte Tichanowakaja am Freitag angekündigt bei einer möglichen Neuwahl in Belarus nicht erneut anzutreten. Ohnehin hatte sie sich nur anstelle ihres Ehemanns zur Wahl aufstellen lassen, nachdem er im Mai festgenommen worden war.

In Belarus gibt es seit der Wahl Massenproteste gegen Lukaschenko. Laut dem offiziellen Wahlergebnis war der Staatschef dabei mit rund 80 Prozent der Stimmen wiedergewählt worden. Kritiker werfen Lukaschenko massiven Wahlbetrug vor. Auch die EU erkannte das Wahlergebnis nicht an. Lukaschenko hat ausländische Regierungen beschuldigt, hinter den Protesten zu stecken. 

ust/uh (dw, dpa, afp, rtr)

Dieser Artikel wurde aktualisiert.