Belarus-Proteste: Darum geht es
19. August 2020Seit Wochen gehen die Menschen zu Tausenden in Belarus (Weißrussland) auf die Straße. Am Sonntag versammelten sich alleine in der Hauptstadt Minsk mehr als 100.000 Demonstranten, um Präsident Alexander Lukaschenko zum Rücktritt aufzufordern - ein historischer Moment. In den kommenden Tagen sollen sich die Proteste sogar noch ausdehnen.
Die Sprechchöre bei den Protesten in Belarus skandieren "Hau ab", und "Es lebe Belarus". Wogegen wird demonstriert?
Die Demonstrationen in der Ex-Sowjetrepublik Belarus richteten sich anfangs gegen das Wahlergebnis. Nach offiziellen Angaben der Wahlkommission bekam Machthaber Lukaschenko 80,2 Prozent - obwohl Umfragen ein völlig anderes Meinungsbild widerspiegelten.
Beobachter halten das Ergebnis für falsch, Bürger fühlen sich um ihre Stimme betrogen."Mittlerweile geht es aber um deutlich mehr: Um die Autonomie des Volkes und die Forderung, das eigene politische Schicksal in die Hand nehmen zu können", sagt Felix Krawatzek vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien der DW.
Schon lange harren die Menschen in der Diktatur aus, denn Lukaschenko ist bereits seit 1994 an der Macht. Laut Experten war die Wahl vor 26 Jahren die einzige, die er frei gewonnnen hatte. Bereits einen Monat nach dem Amtsantritt sicherte er sich die Kontrolle über das Fernsehen, 1996 löste er per Referendum Parlament und Verfassungsgericht auf. Er verlieh sich damit selbst das Recht, Gesetze zu erlassen. Die Opposition wird seither unterdrückt.
Warum sind die Demonstrationen gegen Lukaschenko erst jetzt so massiv?
Schon in den vergangenen Jahrzehnten sind die Menschen in Belarus immer wieder gegen die Regierung und ihre Politik auf die Straße gegangen. "Was diesmal anders ist, ist die starke, symbolisch aufgeladene Anführung der Opposition, und eine wirkliche Hoffnung auf grundlegenden Wandel", sagt Krawatzek der DW.
Was als oppositionelle Kundgebung schon vor den Wahlen begann, weitete sich nach der Bekanntgabe der angeblichen Wahlergebnisse weiter aus. "Über diese massive Wahlfälschung waren die Menschen erbost und versammelten sich wieder auf der Straße", sagt der Politikwissenschaftler. Die Regierung reagierte mit Wasserwerfern und Tränengas, mindestens 6.700 Demonstrierende wurden festgenommen, mehrere Menschen kamen ums Leben. Doch auch das führte nicht zu einem Abebben der Demonstrationen - im Gegenteil.
Auch die Corona-Pandemie wirkte wie ein Beschleuniger. Viele, vor allem jüngere Menschen, verloren ihren Job. Hinzu kam: Trotz hoher Fallzahlen führte Belarus keinerlei Einschränkungen ein, Schulen und Geschäfte blieben geöffnet, Veranstaltungen fanden weiter statt. "Es gab große Zweifel, ob sich das Regime wirklich um sein Volk kümmert", sagt Krawatzek.
Wer treibt die Proteste voran? Warum sind so viele Frauen dabei?
Nachdem anfangs vor allem junge Menschen auf die Straße gingen, sieht man mittlerweile alle Alters- und Berufsgruppen - von den Mitgliedern des Symphonieorchesters bis hin zu Fabrikarbeitern. Die Demonstrationen finden nicht nur in der Hauptstadt Minsk, sondern auch in kleineren Städten statt.
Dabei stechen mittlerweile auch immer wieder Frauen hervor - barfuß, in weißer Kleidung und Blumen in der Hand. Wo es möglich ist, umarmen sie uniformierte Polizisten, stecken Blüten in die Schutzschilde. "Dadurch änderte sich die Proteststrategie: Der Gewalt des Staates wird ein friedliches Gegengewicht entgegen gesetzt", so Politkwissenschaftler Krawatzek.
Für ihn hängt der Richtungswechsel eng mit den drei Oppositionspolitikerinnen Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo zusammen. "Mit einer Mischung aus Authentizität, Bescheidenheit und Glaubwürdigkeit haben sie es geschafft, die Menschen zu mobilisieren. Damit haben sie anderen Frauen im Land Mut gemacht, selbst politisch aktiv zu werden."
Gibt es Parallelen zum Maidan 2014 in der Ukraine?
Auf den ersten Blick mag es Parallelen geben, denn in beiden Ländern gingen und gehen Menschen gegen politische Korruption auf die Straße. Inhaltlich dreht es sich bei den Protesten in Belarus jedoch - anders als in der Ukraine - nicht um eine Entscheidung zwischen der EU und Russland, sondern vor allem die vermutete Wahlfälschung, Präsident Lukaschenko und sein repressives System. "Es geht nicht darum, Belarus nach Europa zu bringen, sondern um politische Selbstbestimmung", sagt Krawatzek. EU-Fahnen findet man deshalb bei den Protesten vergebens.