Warum Polizisten ihren Dienst quittieren
21. August 2020Am 18. August unterzeichnete Alexander Lukaschenko ein Dekret, mit dem mehr als 300 belarussische Sicherheitsbeamte "für tadellosen Dienst" ausgezeichnet wurden. Dem Innenministerium zufolge sollen die Auszeichnungen bereits im März dem Ministerrat vorgeschlagen. Mit der Auflösung von Protestaktionen, die in Belarus nach den Präsidentschaftswahlen am 9. August begannen, hätten sie nichts zu tun.
Unterdessen quittieren jedoch immer mehr Polizisten angesichts jener gewaltsamen Ereignisse ihren Dienst und stellen ihre Kündigung sowie ihre Ausweise bewusst ins Internet. Dort richten sie auch Videobotschaften an ihre Kollegen. Warum haben sie sich dazu entschieden? Und was haben sie nun zu befürchten? Die DW hat mit einigen von ihnen gesprochen.
"Ich will keine Menschen schlagen"
Der Polizeihauptmann Jegor Jemeljanow aus Nowopolozk, 240 Kilometer nördlich von Minsk, hat nach 17 Jahren Dienst gekündigt. Er sagt, er habe dies schon vor den Wahlen tun wollen, aber man habe ihm befohlen, seinen Vertrag bis zum Ende zu erfüllen. Andernfalls müsse er eine einmalig gezahlte Leistung in Höhe von umgerechnet rund 2500 US-Dollar zurückerstatten. Mit ihr werden Sicherheitskräfte für den Abschluss langfristiger Verträge gewonnen.
"Ich habe eine Familie und Kredite laufen, darunter auf meine Wohnung, was eine schwierige Entscheidung war. Abernach den Ereignissen vom 9. und 10. August hatte ich keine Zweifel mehr. Mir war klar, dass ich nicht länger dienen konnte. Dies ist ein wahrer Krieg gegen unbewaffnete Menschen", so Jegor.
Er betont, er werde keine Menschen auf Plätzen auseinanderjagen, erst recht nicht schlagen, selbst wenn dies befohlen würde: "Ich wurde gewarnt, man werde mich nicht auf gütliche Weise feuern. Daraufhin gab ich meinen Ausweis ab und sagte, ich würde nicht mehr zum Dienst erscheinen." Jegor erzählt, er sei noch nie an der Auflösung friedlicher Proteste beteiligt gewesen. Selbst jetzt habe die örtliche Polizei von Nowopolozk bei Festnahmen weder zu Gewalt noch Waffen gegriffen. Dies hätten nur auswärtige Sicherheitskräfte getan, die dort im Einsatz gewesen seien.
Nach Jegor quittierten fünf weitere seiner Kollegen den Dienst. "Ich habe gehört, dass die Führung sagt, ich hätte mich von 'Europa' kaufen lassen, dass dies nur eine PR-Aktion meinerseits sei, um damit Geld zu machen. Ich habe sowohl Angst um mich als auch um meine Familie. Sollte die jetzige Staatsmacht bleiben, drohen mir Probleme", so Jegor.
"Ich sah, in welchem Zustand die Leute die U-Haft verließen"
Oberstleutnant Alexander hat sich ebenfalls entschieden: "Als ich die Bilder von Menschen sah, die von den Sicherheitskräften verprügelt wurden, war mir klar, dass ich diesem Machtsystem nicht weiter dienen kann." Bis vor Kurzem bildete Alexander künftige Mitarbeiter des Innenministeriums aus. Am 9. August bewachte er ein Wahllokal in Minsk. Ihm zufolge gingen die Leute zur Wahl, als wäre es ein Fest. Doch deren Stimmen seien wahrscheinlich nicht gezählt worden: "Ich kann nicht sagen, dass ich Fälschungen gesehen habe, aber die Leute, die in der Kommission saßen, hatten Angst rauszugehen, wollten nichts sagen und weinten nur."
Nach den Wahlen und den darauffolgenden gewaltsamen Ereignissen fasste Alexander schließlich den Beschluss zu kündigen. "Ich sah, in welchem Zustand die Leute die Minsker U-Haft in der Okrestingasse verließen. So etwas haben wir unseren Schülern nicht beigebracht. Dafür haben wir nicht gedient." Alexander gibt zu, dass er 2010 an der Auflösung der Proteste nach der damaligen Präsidentschaftswahl beteiligt war, aber nicht an Festnahmen und Schlägen. Die jetzige Brutalität der Sicherheitskräfte kann er sich nicht erklären.
Auch Alexander, der nun arbeitslos ist, sagt, manche würden denken, er habe sich aus PR-Zwecken für seine Kündigung bezahlen lassen. Doch er erfährt auch Unterstützung: "Wir sind ein Volk, wir sollten einander nicht bekämpfen, geschweige denn schlagen."
"Wir haben unseren Eid aufs Volk geleistet"
"Mitarbeiter der Ermittlungsbehörde gehen nicht raus und verjagen auch keine Menschen. Aber jeder Beamte leistet seinen Eid aufs Volk", sagt der Offizier des Ermittlungsauschusses Wladimir (Name geändert). In seiner Stadt wurden die Demonstrationen nach den Wahlen vom 9. August gewaltsam aufgelöst. "Es gibt ein Video, in dem ein kniender Mann festgenommen und mit einem Stock geschlagen wird. Ich habe mit einem Polizisten gesprochen, der daran beteiligt war. Ich habe mich gewundert, wie er darüber gesprochen hat", so Wladimir.
Er selbst habe nach den Demos seinen Kollegen und der Führung der örtlichen Ermittlungsbehörde vorgeschlagen, eine Versammlung abzuhalten und über das Vorgehen der Sicherheitskräfte während der Proteste friedlicher Bürger zu sprechen. "Höchstwahrscheinlich wurden eine Reihe von Straftaten begangen, mit denen sich die Ermittlungsbehörde zu anderen Zeiten sofort eingehend befasst hätte. Jetzt wird mit Verzögerung reagiert. Dies hängt mit der Politik zusammen und hat nichts mit dem Gesetz zu tun", so Wladimir im Gespräch mit der DW.
Sein Vorschlag wurde abgelehnt. Daraufhin schrieb er einen Bericht. Darin bat er um eine Einschätzung des Vorgehens der Sicherheitsbehörden sowie der Beweise für Wahlbetrug. "Wir wissen nicht, ob Strafverfahren gegen Sicherheitsbeamte eingeleitet wurden. Ich schließe nicht aus, dass es einige Provokationen seitens der Demonstranten gab - es gibt ein Video, aber das Vorgehen der Behörden muss gemäß den Gesetzen bewertet werden", betont Wladimir und fügt hinzu, dass dies seine persönliche Haltung und nicht die der Ermittlungsbehörde sei. "Ich glaube nicht, dass einer meiner Kollegen zu dem Zeitpunkt bereit war, sich mir anzuschließen. Ich weiß nicht, wie es jetzt ist. Aber Faktoren wie der Arbeitsvertrag und ein möglicher vorzeitiger Ruhestand halten sie davon ab", erläutert er.
Wladimir wurde vom Dienst freigestellt. Gegen ihn läuft nun ein internes Prüfungsverfahren. Sollte sich die Lage im Land nicht ändern, wird Wladimir wohl nach 17 Jahren Dienst wegen "Diskreditierung" der Ermittlungsbehörde entlassen. "Ich habe natürlich um mich und meine Familie Angst", sagt er und betont, sollte die Krise zugunsten der jetzigen Staatsmacht ausgehen, müssten er und andere Beamte mit Repressionen rechnen.