Wie wählen Diaspora-Gemeinschaften? Und warum?
Veröffentlicht 7. Juni 2023Zuletzt aktualisiert 8. Juni 2023Nach der Präsidentenwahl in der Türkei sorgte das Abstimmungsergebnis der türkischstämmigen Wähler in Deutschland für Diskussionen. Während der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Stichwahl am 28. Mai gegen seinen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu relativ knapp mit rund 52 zu 48 Prozent siegte, stimmten zwei Drittel der Wahlberechtigten in Deutschland, die von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten, für den autokratischen Regierungschef. Und das, obwohl seine Wähler in Deutschland eine Freiheit genießen, von der sie in der Türkei nur träumen könnten. Bei der Wahl 2018 war es ähnlich.
Woher kommt die Diskrepanz zwischen dem Wahlverhalten in Deutschland und im Heimatland? Ein Teil der Antwort dürfte daran liegen, dass die ersten Türken, die ab den 60er Jahren nach Deutschland kamen, aus dem ländlich-konservativen Anatolien stammten. Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen sagte kürzlich der DW, die konservativ-religiösen Werte dieser Menschen würden "gerade in der Diaspora noch einmal konserviert".
Aber Ulusoy sieht auch Gründe auf deutscher Seite: "Die Politik tut sich nach 60 Jahren immer noch schwer, sich eindeutig zu diesen Menschen zu bekennen." Erdogan dagegen habe sich zu ihnen bekannt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit.
Kaum Trump-Fans unter US-expats
Ganz anders sieht es bei US-Amerikanern aus, die in Deutschland leben. Das englischsprachige Magazin "Exberliner" (das "Ex" kommt von expat) hatte bei den Präsidentschaftswahlen 2016 und 2020 große Mühe, in Deutschland lebende offene Unterstützer von Donald Trump zu finden. Die Suche nach der "äußerst seltenen Berliner Spezies, nämlich amerikanischen Republikanern" sei eine "vergebliche Liebesmüh", schrieb das Magazin. Offizielle Zahlen zum Wahlverhalten der expats aus den USA gibt es zwar nicht, doch ihre große Mehrheit dürfte demnach für die Demokraten gestimmt haben.
Die Organisation Democrats Abroad (DA) ist Anlaufstelle der Anhänger der Demokraten von Präsident Joe Biden im Ausland. DA-Pressesprecherin in Berlin ist Pegi Jones. Sie erklärt sich die Neigung zu eher linken Positionen und zu den Demokraten zum Teil mit dem Bildungsstand: "Viele amerikanische expats haben einen Hochschulabschluss oder studieren", schreibt sie der Deutschen Welle. Das deckt sich mit Statistiken zur jüngsten US-Präsidentschaftswahl. Danach stimmten vor allem junge und gebildete Wähler für den Demokraten Joe Biden.
Und Jones sieht noch einen weiteren möglichen Grund: "Die meisten Amerikaner im Ausland sind eher links durch das, was sie im Gastland (wenigstens in Europa) sehen: allgemeine Krankenversicherung, strenge Waffengesetze, starke LGBTQ+-Rechte etc." Die Wahl von Donald Trump habe dazu geführt, "dass noch mehr Menschen gemerkt haben, was auf dem Spiel steht".
Die entsprechende Organisation der Auslands-Republikaner, Republicans Overseas, wurde von der DW ebenfalls um eine Antwort gebeten, hat aber nicht geantwortet.
Wahlbeteiligung in der Diaspora geringer
Mit der Frage, warum sich das Stimmverhalten von wahlberechtigten Migrantengruppen von dem in ihren Heimatländern unterscheiden kann, hat sich auch die internationale Studie "External Voting" beschäftigt. Dabei geht es allerdings ausschließlich um die ostmitteleuropäischen Länder Bulgarien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und Tschechien und ihre jeweiligen expat communities in westlichen EU-Ländern wie Deutschland.
Die jeweiligen Migrantengruppen wählen danach "im allgemeinen eher marktwirtschaftlich orientierte Parteien und neigen weniger zu illiberalen, einwanderungsfeindlichen, populistischen und autoritär-nationalistischen Kräften als die Wählerschaft im Heimatland", fasst Kacper Szulecki vom Norwegian Institute of International Affairs, einer der Autoren der Studie, das wohl wichtige Ergebnis gegenüber der DW zusammen.
Doch er warnt vor voreiligen Schlüssen: Die Wahlbeteiligung der Auslandswähler sei oft viel geringer als im Heimatland, manchmal um 30 Prozent und mehr. "Das bedeutet, dass das Wahlverhalten der Diaspora-Gemeinschaften nicht unbedingt repräsentativ für diese Gemeinschaften ist."
Expats sind oft jung und wirtschaftlich erfolgreich
Doch was genau bestimmt dieses unterschiedliche Wahlverhalten? Die Studie kommt zu dem Schluss, "dass der wichtigste bestimmende Faktor…soziodemographisch und nicht ideologischer Natur ist". Die Diaspora-Wähler aus diesen Staaten sind zum Beispiel im Durchschnitt jünger und wirtschaftlich oft erfolgreicher als der Durchschnitt.
Kacper Szulecki nennt mögliche Gründe für abweichendes Wahlverhalten: So könnten Migranten im Ausland, "nachdem sie jahrelang in einem funktionierenden Wohlfahrtsstaat gelebt haben", Parteien im Heimatland wählen, die dafür eintreten - oder sie erleben das Gegenteil und ziehen daraus bei Wahlen Konsequenzen. Oder sie könnten "sich radikalisieren, weil sie sich im Gastland ausgeschlossen fühlen" – eine mögliche Erklärung für die Beliebtheit Erdogans unter einem Teil der Deutschtürken, wie auch Sulecki mutmaßt.
Starke Diskrepanz bei Polen
Von den ostmitteleuropäischen Ländern weicht vor allem in Polen das Wahlverhalten im Heimatland von dem seiner expat communities in den alten EU-Ländern wie Deutschland ab. Das hat die Studie besonders seit dem Amtsantritt der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit, PiS, ab 2015 beobachtet.
Nach Angaben von Kacper Sulecki bekam die PiS bei den Parlamentswahlen 2019 in Polen selbst knapp 44 Prozent der Stimmen, von den Polen in Deutschland aber nur 24 Prozent. Genau umgekehrt schnitt das liberale Parteienbündnis Bürgerkoalition ab: In Polen mit rund 27 Prozent, bei den Polen in Deutschland 43 Prozent. Auch hier sieht Szulecki den Grund in der Zusammensetzung der polnischen expat community: Diese Menschen seien "oft hochqualifiziert, und nicht nur bessere Arbeitsmöglichkeiten haben sie hergeführt, sondern auch attraktivere Lifestyle-Möglichkeiten".
Doch schleifen sich die Unterschiede zwischen dem Wahlverhalten in der Diaspora und im Heimatland mit der Zeit ab oder nehmen sie zu? "Im allgemeinen wachsen die Unterschiede", sagt Kacper Szulecki.