60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen
5. Oktober 2021"Im Interesse einer geregelten Vermittlung türkischer Arbeitnehmer nach der Bundesrepublik Deutschland" - mit diesen Worten beginnt die Vereinbarung, die Deutschland und die Türkei am 30. Oktober 1961 trafen und an die nach 60 Jahren in Berlin feierlich erinnert wird. Westdeutschland suchte damals Arbeitskräfte für seine boomende Industrie, hunderttausende Türken folgten dem Ruf.
Das Anwerbeabkommen sei "kein Akt der Nächstenliebe oder Zeichen fortschrittlicher Zuwanderungspolitik" gewesen, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede bei einem Festakt der Türkischen Gemeinde in Deutschland. "Deutschland war knapp an Arbeitskräften. Die Optionen lauteten: Wachstumsverzicht oder Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland." Und beide Seiten seien zunächst von einem begrenzten Aufenthalt ausgegangen. Heute seien die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter "integraler Teil der Geschichte" der Bundesrepublik, so Steinmeier.
"Der Grund, warum wir heute hier sind"
Inzwischen sind es etwa drei Millionen Menschen in Deutschland, die eine türkische Migrationsgeschichte haben. Burak Yilmaz gehört zur Generation der Enkel. Sein Großvater kam 1963 mit dem Zug aus Istanbul nach München. Er ging ins Ruhrgebiet, arbeitete zunächst im Bergbau, dann bei der Eisenbahn. Die ersten "Gastarbeiter" hatten laut Abkommen nur einige Jahre in Deutschland bleiben sollen, doch dann entschied der deutsche Staat, dass sie auch ihre Familien nachholen und länger bleiben konnten.
"Meine Oma hat bei einer Lebensmittelfabrik gearbeitet. Sie haben morgens die Kinder zur Schule gebracht, sind dann arbeiten gegangen und haben sich danach noch um einen kleinen Gemüseladen gekümmert", sagt Yilmaz. Die Arbeit habe ihren gesamten Alltag bestimmt. "Weil ihnen wichtig war, dass ihre Kinder bessere Bedingungen im Leben haben als sie selbst."
Yilmaz ist froh, dass er mit seinen Großeltern heute noch über diese Zeit sprechen kann. Und der Jahrestag, das Anwerbeabkommen - nur ein Dokument, nur ein Datum? "Nein, das hat für mich eine ziemlich große Bedeutung. Und nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie und viele andere Menschen, die diese Migrationsgeschichte haben. Das ist schließlich der Grund, warum wir heute in Deutschland sind."
Angekommen oder ausgegrenzt?
Yilmaz selbst wird 1987 in Duisburg geboren. In seiner Kindheit habe er oft das Gefühl gehabt, nicht Teil der Gesellschaft zu sein. "Mir wurde vermittelt, dass ich außen stehe, dass ich ein Problem bin. Mit Sprüchen wie: 'Geh doch zurück in deine Heimat.' Aber das passt ja vorne und hinten nicht, ich bin doch hier geboren und groß geworden." Heute ist Heimat für den Pädagogen und Buchautor ein Wort im Plural – er fühlt sich deutsch, türkisch und kurdisch zugleich.
Doch auch wenn er und viele andere das Gefühl haben, in dieser Gesellschaft angekommen zu sein, sagt Yilmaz: "Rassismus ist immer noch alltäglich. Es gibt immer wieder diese Nadelstiche, die manchmal mehrmals im Monat passieren." Zuletzt habe es ihn am 26. September erwischt, dem Tag der Bundestagswahl. Im Wahllokal habe ihn der Schriftführer rassistisch angegangen, also die Person, welche die Namen im Wählerverzeichnis überprüft. "Es gibt immer noch Leute, die meinen, dass Deutschland nur für diejenigen da ist, die blonde Haare und blaue Augen haben."
Auch Bundespräsident Steinmeier prangert den fortdauernden "Alltagsrassismus" an. Menschen aus türkischstämmigen Familien der zweiten, dritten oder vierten Generation erhielten bei der Wohnungssuche oder Bewerbungsgesprächen aufgrund von Vorurteilen und Ressentiments häufig noch Absagen, so das Staatsoberhaupt. "Das dürfen wir und das werden wir in diesem Land nicht dulden!"
Schule sorgt für Integration
Hacı-Halil Uslucan, wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung der Universität Duisburg-Essen, betont, Geschichten wie die aus Yilmaz' Wahllokal seien keine Einzelfälle. Etwa acht von zehn Befragten mit türkischer Migrationsgeschichte berichteten, dass sie mindestens einmal im vergangenen Jahr Ausgrenzung erfahren mussten. "Das ist natürlich eine sehr hohe Zahl", sagt der Wissenschaftler.
Insgesamt positiv habe sich die Integration im Bereich der Bildung entwickelt, so Uslucan. "Die erste Generation kam mit Grundschulbildung. Die Nachfolgegeneration hatte mindestens acht bis zehn Jahre Schulbildung. Das hat es in der Bildungsgeschichte nie gegeben, dass sich die formalen Bildungszeiten innerhalb einer Generation verdoppeln."
Zugehörigkeit zum Islam bleibt stabil
In der dritten und vierten Generation habe die Zahl der Abiturienten mit Migrationsgeschichte weiter zugenommen. Doch im gleichen Zeitraum sei auch die Zahl der Abiturienten ohne Migrationsgeschichte noch stärker angestiegen. "Die Schere bleibt hier nach wie vor offen, obwohl die Migranten sich verbessern", sagt Uslucan. Noch heute ist es für türkischstämmige Kinder schwieriger als für deutsche, von der Grundschule eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen. Auch Yilmaz sahen seine Grundschullehrer auf der Hauptschule.
In den vergangenen 60 Jahren habe es in vielen Punkten eine Angleichung der Türkeistämmigen an die Mehrheitsgesellschaft gegeben, sagt Uslucan. "Aber es gibt nach wie vor Unterschiede, etwa bei der Religiosität." Während die deutsche Gesellschaft insgesamt immer säkularer werde, sei bei Zuwanderern eine hohe Zugehörigkeit zum Islam über mehrere Generationen recht stabil geblieben. "Auch die emotionale Verbundenheit mit der Türkei ist in der dritten Generation noch sehr, sehr hoch", sagt Uslucan. "Obwohl die Menschen hier geboren sind und die Türkei weitgehend aus Erzählungen und Urlaubskontakten kennen."
Vierte Generation will Verantwortung
Jugendliche mit türkischer Migrationsgeschichte hätten einen pluraleren Umgang mit der eigenen Identität als seine Generation in den 1980er und 1990er Jahren, sagt der Pädagoge Yilmaz. "Die vierte Generation ist hungrig. Sie beanspruchen Verantwortungspositionen und sie sagen: Das ist auch unser Land!"
Und wenn es doch zu Ausgrenzung kommt, zu Diskriminierung? Wie geht Yilmaz damit um? Nachdem er am Wahlsonntag beschimpft worden war, beschwerte der Duisburger sich beim Wahlamt. Dort versicherte man ihm, der Wahlhelfer werde in Zukunft nicht mehr eingesetzt. "Und dann habe ich angeboten, bei der nächsten Wahl zu helfen", erzählt er. In Zukunft wird Burak Yilmaz also als Schriftführer die Namen im Wählerverzeichnis abhaken.