Der tiefe Fall des Jan Ullrich
7. August 2018Der Moment ganz oben: Ein junger Mann mit Sommersprossen und goldenem Ring im linken Ohr kurbelt unfassbar schnell und doch scheinbar mühelos die steilen Rampen nach Andorra-Arcalis hinauf. Wir schreiben den 15. Juli 1997 und gerade eben hat Jan Ullrich von seinem bisherigen Kapitän im Team Telekom, Bjarne Riis, dem Vorjahressieger der Tour de France, grünes Licht bekommen. Jetzt fährt Ullrich wie entfesselt allen Konkurrenten weg, auch Riis. Nach einem Monstrum von Bergetappe (252 Kilometer mit sechs Anstiegen) steht der 23 Jahre junge Rotschopf nahezu frisch hinter der Tribüne, auf der er gerade sein erstes Gelbes Trikot erhalten hat. Es ist die Geburt eines Sporthelden, der am Mikrofon des französischen Fernsehens noch etwas unbeholfen wirkt: "Ich bin so froh, dass ich das Gelbe Trikot tragen darf, damit geht ein Traum für mich in Erfüllung. Vor der Tour habe ich nicht daran gedacht. Ich dachte, ich bin Helfer von Bjarne." So unverhofft der Moment für ihn selbst kommt, so unverhofft kommt er auch für die Sport-Nation Deutschland, die dank des späteren Tour-Siegers Jan Ullrich einen wahren Radsport-Hype erlebt.
Der Moment ganz unten: Ein heißer Tag im August 2018 auf Mallorca. Sie warten schon auf ihn. Als Jan Ullrich das Gerichtsgebäude von Palma de Mallorca verlässt, stehen Kamerateams, Fotografen und Reporter schon bereit. "Herr Ullrich, wie geht es Ihnen denn?" Keine Antwort. Jan Ullrich stapft durch eine dunkle Gasse. Weißes T-Shirt, Kappe, verquollene Augen, unsicherer Blick. "Jetzt lasst mich mal alle in Ruhe. Ich will jetzt nach Hause. Ich war im Gefängnis", sagt er als er vom Haftrichter kommt. Wie es dazu kam, steht längst in allen Boulevardmedien: Jan Ullrich drang völlig zugedröhnt in den Garten seines Nachbarn, Schauspieler Til Schweiger, ein, randalierte dort und legte sich mit Schweigers Partygästen an, bis ihn die herbeigerufene Polizei festnahm. Nach einer Nacht im Knast darf er wieder nach Hause, das inzwischen in Establiments, einem Vorort von Palma, liegt. Im Blitzlichtgewitter steigt er in einen Van. Die Bilder eines ramponierten Sportdenkmals gehen um die Welt. Wieder einmal treiben die Medien Jan Ullrich vor sich her. Es ist ein neuer Tiefpunkt auf einer langen Talfahrt.
Dem Neuanfang wohnt bereits das Ende inne
Begonnen hat sie eigentlich schon während seiner aktiven Karriere: 2002 verursacht er unter Alkoholeinfluss einen Autounfall. Ein Ausrutscher eines jungen Leistungssportlers, denken viele seiner Fans. Als Ullrich wenig später jedoch während eines Aufenthalts in einer Rehabilitationsklinik von Dopingkontrolleuren positiv auf Amphetamine getestet, gesperrt und aus dem Team geworfen wird, kann man erahnen, dass es ein echtes Problem gibt. Ullrich, das Jahrhunderttalent, kommt eigentlich jedes Jahr mit deutlichem Übergewicht aus dem Winter, das sichtbarste Zeichen für seinen unsteten Lebenswandel. Schon damals berichten Wegbegleiter von Alkohol, deutlich mehr als ein Leistungssportler zu sich nehmen sollte. Seine Kilos sind ein klares Handicap im Kampf um die Tour de France, den er zuverlässig Jahr um Jahr gegen den entschlossenen, professionell arbeitenden Lance Armstrong verliert. Dennoch oder vielleicht auch gerade wegen seiner Fehler, seines Übergewichts, seiner im Vergleich zur "Maschine Armstrong" menschlichen Schwäche ist er ein Held in Deutschland. Sein Comeback 2003 und der epische - und dieses Mal tatsächlich knappe Kampf - mit Armstrong bringt ihm erneut den Titel "Sportler des Jahres" in seiner Heimat und weil Ullrich nach einem Sturz Armstrongs auf seinen Widersacher wartet, steigen seine Sympathiewerte immer weiter.
Doch diesem Neuanfang wohnt bereits das Ende inne: Denn später wird klar, dass Ullrich seit 2003 bereits Kunde des berüchtigten Spaniers Eufemiano Fuentes war und regelmäßig für Blutdoping-Anwendungen in dessen Praxis nach Madrid flog. Nach seinem Weggang vom Telekom-Team und dem Wegfall der "Versorgung" durch die Freiburger Uniklinik bringt ihn sein sportlicher Leiter Rudy Pevenage mit dem in der Szene sagenumwobenen Doping-Arzt zusammen. Der große Schwindel fliegt 2006 kurz vor der Tour de France durch die Ermittlungen im Rahmen der Operación Puerto auf. Jan Ullrich wird aus dem Team T-mobile geworfen, beendet Anfang 2007 seine Karriere und begeht einen entscheidenden Fehler: Er macht nicht reinen Tisch.
"Er ist ein Wrack"
Ullrich nimmt die Lüge mit in die Zeit nach seiner sportlichen Laufbahn. Andere berichten detailliert von seinen Dopingpraktiken, Ullrich schweigt und verliert dadurch Ansehen und Sponsoren. Nur widerwillig und nur scheibchenweise gibt er Teile seines Doping-Betruges zu - und das erst Jahre später. Einzelnen Vertrauten offenbart er sich, fürchtet Schadensersatzklagen bei einem vollen Geständnis. Inzwischen ist klar: Das Verschweigen der Wahrheit bringt den weitaus größeren Schaden in seinem Leben.
Denn Jan Ullrich ist nach den Doping-Enthüllungen nicht nur kein Sportheld mehr, er verkriecht sich, meidet die Öffentlichkeit und schreibt erneut andere Schlagzeilen: 2014 verursacht Ullrich erneut unter Alkoholeinfluss einen Verkehrsunfall. Dieses Mal in seiner damaligen Wahlheimat Schweiz und dieses Mal geht die Sache weniger glimpflich aus: Es gibt zwei Verletzte und Ullrich erhält 21 Monate Haft auf Bewährung. Bei Radrennen wie Rund um Köln wird er auf öffentlichen Druck hin zur Persona non grata. Nach dem Umzug nach Mallorca folgt das Scheitern seiner Ehe, seine Frau Sara zieht mit den Kindern zurück nach Deutschland. Bekannte und Boulevardreporter berichten von Eskapaden, Alkohol, Drogen und Freunden, die sich abwenden. Und glaubt man Nachbar Til Schweiger, ist es einsam um Ullrich geworden: "Ich habe wirklich tolle Freunde von ihm kennengelernt, die alles gegeben haben, um ihm zu helfen. Auch seine Frau hat alles gegeben. Aber am Ende hatte er keine Freunde mehr, sondern nur noch Menschen, die ihn systematisch ausgeraubt haben. Jan wirkte völlig zugedröhnt und nicht mehr zurechnungsfähig", so Schweiger in der "Bild"-Zeitung. "Er ist ein Wrack, mittlerweile ein gefährliches Wrack."
Armstrong will helfen
Eben jene "Bild"-Zeitung besucht Jan Ullrich auch kurz nach seiner Freilassung. Die Bilder, die dabei entstehen, zeigen einen zwar durchtrainierten, aber angeschlagenen Jan Ullrich. Dem Reporter sagt er, dass ihn die Trennung von seiner Frau sehr mitgenommen habe. "Dadurch habe ich Sachen gemacht und genommen, die ich sehr bereue."
Der Weg in diese Isolation ist gezeichnet von einer Suche nach dem richtigen Weg. Ullrich leidet sichtlich unter der Tatsache, dass er in der Öffentlichkeit auf sein Doping reduziert wird. Dass dem so ist, hat er jedoch selbst zu verantworten. Mit einem frühen und aufrichtigen Geständnis hätte er durchaus Verständnis erzeugen können: Denn welche andere Wahl hatte ein 22-jähriger Jungprofi in einem damals durch und durch dopingverseuchtem Sport denn gehabt? Ullrich entschied sich anders. Nun spricht sein Anwalt Wolfgang Hoppe von einem Therapie-Platz in einer Klinik in Deutschland, der bereits reserviert sei. Und sein ehemaliger Rivale Lance Armstrong bietet freundschaftlich Hilfe an, will sich laut Hoppe mit einem Arzt zu Ullrich begeben. Die Hilfe kommt spät, aber noch nicht zu spät. Im Alter von 44 Jahren sucht Jan Ullrich nach einem Wiederanfang. Wieder einmal.