Wie geht es weiter nach dem Brand in Moria?
9. September 2020Auf der griechischen Insel Lesbos spitzt sich die Lage für die mehr als 12.500 ehemaligen Bewohner des Lagers Moria zu, nachdem dieses in der vergangenen Nacht ausgebrannt war. Der Zivilschutz hat einen viermonatigen Ausnahmezustand für die Insel verhängt. Bei Sonne und Temperaturen um die 30 Grad Celsius harrten lokalen Journalisten zufolge Tausende den ganzen Tag auf einer Straße aus, weil die Behörden die Flüchtlinge und Migranten möglichst an einem Ort halten wollen.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR warnt vor Konflikten zwischen Flüchtlingen und der Inselbevölkerung. Die Genfer Behörde teilte mit, sie arbeite an einer vorübergehenden Lösung für die Unterbringung der Menschen. Griechische Regierungsvertreter kündigten bei einem Besuch auf Lesbos an, die obdachlos gewordenen Migranten sollten zunächst auf Schiffen und in Zelten untergebracht werden. 1000 Menschen sollten auf einer Fähre untergebracht werden, außerdem seien zwei Marineschiffe nach Lesbos unterwegs.
12.500 Betroffene, offiziell keine Verletzten
Wenige Stunden vor dem Ausbruch von Feuern an mehreren Stellen hatten Behörden vermeldet, dass von rund 2000 durchgeführten Corona-Tests unter den Campbewohnern 35 positiv ausgefallen waren. Die infizierten Menschen waren zwar in einem Gebäude isoliert worden, das laut Behörden nicht von dem Feuer betroffen war - der Nachrichtenagentur Reuters zufolge ist jedoch unklar, wo sie sich derzeit aufhalten. Infolge des Corona-Ausbruchs war das komplette Lager mit den zuletzt rund 12.500 Bewohnern unter Quarantäne gestellt worden. Moria ist seit Jahren dauerhaft massiv überbelegt, offiziell bietet das Camp Platz für 2.757 Personen. Laut Behörden wurde durch den Brand niemand verletzt oder getötet. Wohl auch deshalb hält sich die Vermutung, Bewohner hätten die Feuer selbst gelegt: "Die Zelte waren leer", sagte der stellvertretende Leiter des Zivilschutzes Michalis Fratzeskos im griechischen Sender ERT.
Neuer Flammenherd
Im großenteils zerstörten Flüchtlingslager brach am Mittwochabend ein neues Feuer aus. Die Flammen loderten laut dem Bericht eines Fotografen der Nachrichtenagentur AFP in einem Teil des Lagers, das von der vorangegangen Brandkatastrophe nur wenig betroffen war. Erneut kam es zu chaotischen Zuständen: Flüchtlinge rannten aus dem Lager, während ihre Zelte verbrannten.
Der Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrates sagte der DW, Moria sei eine "Zeitbombe" gewesen. "Hoffentlich ist das der Weckruf, den die Regierenden in den europäischen Hauptstädten brauchten." Norwegen hat nach dem Feuer bereits in Aussicht gestellt, 50 Syrer aufzunehmen, allerdings dürfen sämtliche Campbewohner auf Anordnung der griechischen Behörden die Insel nicht verlassen. Eine Ausnahme gilt laut Migrationsministerium für die verbliebenen rund 400 Minderjährigen - ihre Verteilung will die EU-Kommission nun unverzüglich angehen.
Moria als Symbol für gescheiterte Verteilung
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schrieb bei Twitter, sie sei "tief besorgt" und erklärte die Sicherheit der obdachlos gewordenen Menschen zur Priorität. Ratspräsident Charles Michel erklärte seine "volle Solidarität mit den Unterschlupf gewährenden Menschen von Lesbos, den Migranten und Helfern".
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) sprach von einer "humanitären Katastrophe" und drängte auf schnelle Hilfen für Griechenland seitens der EU-Kommission und "anderen hilfsbereiten EU-Staaten". Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (ebenfalls SPD) sagte im Bundestag, Deutschland und Europa müssten nun helfen. Das Lager Moria am südöstlichen Rand der EU war im Laufe der vergangenen Jahre zum Symbol für das Scheitern eines europaweiten Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge geworden. Im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaft will Deutschland einen neuen Anlauf für eine Lösung starten.
Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias Middelberg, sagte, der Brand mache deutlich, "wie dringend eine europäische Antwort auf die Flüchtlingsentwicklung ist." Der Sprecher von Bundesinnenminister Horst Seehofer sagte, die aktuelle Situation sei kein Grund, "unsere bisherige Rechtsordnung infrage zu stellen."
Deutschland hatte seit Beginn der Corona-Krise wenige Hundert Minderjährige aus Moria aufgenommen; mehrere Städte und Bundesländer hatten weitaus größere Kapazitäten angeboten. Ein größeres Kontingent hatte Seehofer mit Verweis auf die Notwendigkeit einer europaweiten Lösung jedoch abgelehnt. Als Reaktion auf das Feuer sagte die Sprecherin für Europapolitik der Grünen-Fraktion im Bundestag, Franziska Brantner, der DW: "Seehofer muss endlich erlauben, dass jene Kommunen und Bundesländer, die Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen wollen, dies auch können. Es ist absurd, dass bei uns eine konkrete Aufnahmebereitschaft existiert und gleichzeitig die Situation auf Lesbos unerträglich wird. Herr Seehofer muss jetzt endlich Verantwortung übernehmen."
Der Chef der liberalen FDP, Christian Lindner, forderte, das Thema "ganz nach oben" auf die Agenda der EU zu setzen.
Die rechte AfD, die die größte Oppositionsfraktion im Bundestag stellt, forderte, die Asylverfahren der Menschen in Moria möglichst schnell abzuschließen und diejenigen, die keinen Anspruch auf Schutz haben, schnell abzuschieben.
Nach der Brandkatastrophe auf der griechischen Insel Lesbos forderten am Mittwochabend tausende Menschen in Deutschland die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Lager. Die größte Demonstration fand in Berlin statt, wo rund 10.000 Menschen auf die Straße gingen, wie die Organisation Seebrücke mitteilte. Nach ihren Angaben demonstrierten unter anderem weitere 3000 Menschen in Köln und 2500 Menschen in Hamburg. Die Seebrücke hatte bundesweit zu spontanen Protesten und Kundgebungen aufgerufen.
Deutsche Städte wollen Flüchtlinge aufnehmen
Unterdessen haben einige deutsche Städte und Länder ihre Angebote erneuert: Das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen will laut Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) bis zu 1000 Flüchtlinge unterbringen. Auch Berlin wolle 300 Betroffene rasch aufnehmen, bekräftigte Innensenator Andreas Geisel (SPD). Hamburgs Senatssprecher Marcel Schweitzer nannte keine konkrete Zahl, als er sagte, Hamburg sei bereit zur Aufnahme Geflüchteter.
Kölns parteilose Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die sich am Sonntag zur Wiederwahl stellt, schrieb: "Wir dürfen und werden nicht wegschauen." Die Bremer Sozialsenatorin Anja Stahmann, die auch der Integrationsministerkonferenz der Länder vorsitzt, forderte Seehofer auf, seine restriktive Haltung zur Aufnahme von Geflüchteten aus dem seit langem überfüllten Lager aufgeben. Die Lage sei schon vor den Feuern menschenunwürdig gewesen, sagte die Grünen-Politikerin.
Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße sprach von einer "Katastrophe mit Ansage": "Die mit dem Flüchtlingslager Moria verfolgte Politik der Abschreckung geht auf Kosten der Menschlichkeit."
ehl/qu (dpa, ap, afp, epd, rtr, DW)