Wer sind die Taliban?
17. August 2021Sie selbst nennen sich "Schüler und Studenten" - so lautet die wörtliche Übersetzung des Wortes "Taliban". Der Begriff ist die paschtunische Pluralform des aus dem Arabischen stammenden Wortes "talib". Viele Taliban sollen in den 1990er-Jahren religiöse Schulen in Afghanistan und Pakistan besucht haben, an denen eine extremistische Auslegung des sunnitischen Islams gepredigt wurde.
Mittlerweile denkt bei dem Begriff niemand mehr an Frauen und Männer, die sich über Bücher beugen. Der Begriff Taliban wird mit Terror und Zerstörung assoziiert. Nach der neuerlichen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan kamen hunderte von Zivilisten zum Flughafen in Kabul, um ihrer Herrschaft zu entfliehen.
Hierarchische Strukturen
In diesem Artikel beziehen wir uns mit dem Begriff "Taliban" lediglich auf die afghanischen Taliban, nicht auf ihr Gegenüber in Pakistan. Wer also ist diese militant-islamistische Gruppe, die in und außerhalb Afghanistans so große Ängste auslöst?
Die Taliban sind streng hierarchisch organisiert. Oberster Chef ist seit 2016 Mawlawi Haibatullah Achundsada. Der religiöse Anführer ist die höchste Autorität in allen politischen, militärischen und religiösen Angelegenheiten.
Unterstützt wird er durch drei Delegierte und einige Minister, die für die Bereiche Wirtschaft, Militär und Geheimdienst zuständig sind. Höchstes Ratgebergremium ist die sogenannte "Rahbari Schura," auch "Quetta Schura" genannt, mit 26 Mitgliedern.
Die internationale politische Vertretung der Taliban befindet sich in Doha, der Hauptstadt von Katar, und wird von Taliban-Mitbegründer Mullah Abdul Ghani Baradar angeführt. Vertreter dieser Gruppe waren an den Friedensverhandlungen mit den USA beteiligt, angeführt von Mullah Abdul Hakim (siehe Grafik).
Lukrativer Drogenhandel
Die militant-islamistische Vereinigung verdient viel Geld mit dem Export von Opium und Heroin. Nach UN-Schätzungen haben die Taliban allein 2018 und 2019 mehr als 400 Millionen Dollar durch illegalen Drogenhandel eingenommen. Dies entspricht laut US-Angaben 60 Prozent der gesamten Einnahmen der Terrorgruppe.
Weitere Einnahmequellen werden in einem Report des politischen Analysten Hanif Sufizada vom "Center for Afghanistan Studies" aufgelistet. Dazu gehören Spenden, Steuern und der Abbau und Verkauf von Rohstoffen. Einige Länder sollen auch direkte Zahlungen an die Taliban leisten.
"Die Taliban haben zwei Verbündete", erklärt Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). "Der wichtigste Partner ist Pakistan. Der zweite Verbündete ist der Iran." Die iranische Revolutionsgarde habe die Taliban in den vergangenen Jahren unterstützt, um die USA zu schlagen.
Internationale Unterstützung
Die Geschichte der Taliban begann mit dem Kampf gegen die sowjetische Besatzung des Landes. Die Sowjetunion war 1979 in Afghanistan einmarschiert. Das von Moskau gestützte Regime in Kabul wurde von den sogenannten Mudschaheddin bekämpft, die von den USA, Pakistan und Saudi-Arabien unterstützt wurden.
1989 zogen die sowjetischen Truppen ab. Die 1994 von Mullah Mohammed Omar gegründeten Taliban kündigten an, das vom Bürgerkrieg gezeichnete Land von Warlords und Kriminellen zu befreien und Ordnung, Sicherheit und Frieden wiederherzustellen.
Die von Pakistan unterstützte Taliban-Bewegung wuchs und eroberte mehrere Städte und Provinzen im Land. Bei der Bevölkerung waren die Kämpfer oftmals beliebt, weil sie Korruption bekämpften und in den Gebieten, die sie beherrschten, dafür sorgten, dass Händler ihre Geschäfte wieder öffnen konnten.
Am 27. September 1996 marschierten die Taliban in Kabul ein und errichteten das Islamische Emirat Afghanistan. Zwei Jahre später kontrollierten sie 90 Prozent aller Gebiete im Land.
Einführung der Scharia
Unter der Herrschaft der Taliban kam es zu schweren Menschenrechtsverletzungen, insbesondere bei Frauen und Mädchen. Sie setzten die Anwendung der Scharia durch und beharrten auf ihrer radikalen Auslegung der Religion.
Demnach ist es Mädchen ab zehn Jahren nicht mehr erlaubt, zur Schule zu gehen. Frauen müssen einen Ganzkörperschleier, die sogenannte Burka, tragen, und dürfen ohne männliche Begleitung das Haus nicht verlassen.
Autofahren ist für Frauen unter Androhung der Todesstrafe verboten. Dieben werden die Hände amputiert, Mörder und Ehebrecher öffentlich hingerichtet. Fernsehen, Musik und Kino sind generell verboten.
Experten warnen davor, dass sich die ideologische Ausrichtung der Taliban in den vergangenen 20 Jahren nicht verändert habe. "Berichte aus Kandahar und anderen Regionen, die bereits vor Wochen von den Taliban erobert wurden, hören sich alles andere als vielversprechend an", sagt die US-amerikanische Afghanistan-Expertin Jessica Berlin im DW-Gespräch. "Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass die Taliban humanitärer agieren werden."
USA marschieren in Afghanistan ein
Die internationale Gemeinschaft ächtete Afghanistan aufgrund der Menschenrechtsverletzungen unter der Taliban-Herrschaft als Paria und verweigerte die staatliche Anerkennung. Sie schritt allerdings erst nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center ein.
Der für den Anschlag mit 3000 Todesopfern verantwortliche Terrorist Osama bin Laden, Chef des Al-Kaida-Netzwerkes, hatte in Afghanistan einen sicheren Zufluchtsort gefunden. Als die Taliban die Auslieferung Bin Ladens verweigerten, begannen die USA im Oktober 2001 mit der Invasion Afghanistans. Im Mai 2011 wurde Bin Laden durch US-Einsatzkräfte in Pakistan getötet.
Comeback der Krieger
Die ersten direkten Friedensverhandlungen zwischen den USA und den Taliban begannen bereits 2018 - ohne die Beteiligung der gewählten afghanischen Regierung. 2020 kam es zu direkten Gesprächen zwischen Taliban und der Regierung in Kabul, die aber schnell abgebrochen wurden.
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug von US- und NATO-Truppen aus Afghanistan bis zum 11. September an. Kritiker äußerten sich besorgt über den schnellen Rückzug und befürchteten chaotische Zustände und den Sturz der demokratisch gewählten Regierung. Eine Einschätzung, die sich bewahrheitete.
Aus dem Englischen adaptiert von Astrid Prange de Oliveira.