Taliban verkünden in Kabul ihren Sieg
16. August 2021Zwei Jahrzehnte nach ihrem Sturz sind die Taliban ins Zentrum der Macht in Kabul vorgerückt und haben Agenturberichten zufolge die Kontrolle auch in Afghanistans Hauptstadt übernommen. Nach ihrem blitzartigen Vormarsch feierten bewaffnete Kämpfer der radikalislamischen Miliz im Präsidentenpalast in Kabul ihren "siegreichen" Feldzug gegen die afghanische Regierung. Der Politbüro-Chef der Extremisten, Mullah Abdul Ghani Baradar, erklärte in einer Videobotschaft, dieser unerwartete Erfolg sei beispiellos in der Welt. Nun aber folge die wirkliche Bewährungsprobe, nämlich die Erwartungen der Menschen zu erfüllen und ihre Probleme zu lösen.
"Der Krieg ist vorbei"
Der arabische Fernsehsender Al Dschasira veröffentlichte Bilder, die dem Bericht zufolge Taliban-Kommandeure und Dutzende Kämpfer im Präsidentenpalast zeigten. Ein Sprecher der Aufständischen sagte dem Sender, der Krieg sei vorbei.
Der afghanische Präsident Aschraf Ghani hatte zuvor die Flucht ergriffen. Ghani ließ auf Facebook erklären, er habe Afghanistan verlassen, um Blutvergießen zu vermeiden. Zu seinem Aufenthaltsort äußerte er sich nicht. Wie Al Dschasira unter Berufung auf einen Leibwächter des Politikers berichtete, machte sich Ghani unter anderem mit seinem Stabschef auf den Weg in die usbekische Hauptstadt Taschkent. "Die Taliban haben gesiegt", konstatierte Ghani in seiner Erklärung. Wenn er geblieben wäre, wären "zahllose Patrioten" getötet und Kabul zerstört worden.
Chaotische Szenen auf dem Flughafen
Auf dem internationalen Flughafen von Kabul spielten sich chaotische Szenen ab, wie auf Videos zu sehen ist, die auf Twitter veröffentlicht wurden. Viele Menschen versuchten augenscheinlich, Flugzeuge zu erreichen, die die Stadt verlassen würden.
US-Soldaten feuerten Warnschüsse in die Luft. Man wolle damit Hunderte Afghanen davon abhalten, das Rollfeld zu stürmen, um an Bord von Militärflugzeugen zu gelangen, sagte ein US-Vertreter. Die militärischen Flüge seien nur für Diplomaten, Botschaftspersonal und einheimische Ortskräfte der Botschaft gedacht.
Deutschland und andere westliche Staaten hatten zuvor ihre Botschaften geräumt. In der Nacht zum Montag begann auch die Evakuierung deutscher Staatsbürger aus der afghanischen Hauptstadt.
Die USA brachten bereits "hunderte" ihrer Botschaftsmitarbeiter außer Landes, wie ein Regierungsvertreter in Washington sagte. US-Präsident Joe Biden kündigte an, tausend weitere Soldaten nach Kabul zu schicken, um die Evakuierungen zu unterstützen. Insgesamt werden sich somit 6000 US-Soldaten an dem Einsatz beteiligen. Auf Bildern aus Kabul war ein Hubschrauber am Botschaftsgebäude zu sehen. Die US-Regierung erklärte, sie werde Maßnahmen zur Sicherung des Flughafens ergreifen.
Die "friedliche Machtübergabe"
Mehr als 60 Länder fordern in einer gemeinsamen Erklärung, Afghanen und andere Staatsbürger, die das Land verlassen wollen, müsse die Ausreise erlaubt werden. Auch Flughäfen und Grenzübergänge müssten geöffnet bleiben, teilte das US-Außenministerium mit. Die Forderung sei unter anderem von den USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Kanada, Japan, Italien, Südkorea, Australien und Katar unterzeichnet worden.
Nach einem zehntägigen Eroberungsfeldzug durch Afghanistan war die radikalislamische Miliz am Sonntag zunächst bis an den Stadtrand von Kabul und in die Außenbezirke vorgerückt. Die afghanische Regierung hatte sich bereits zur Machtübergabe bereiterklärt. Innenminister Abdul Sattar Mirsakwal sagte eine "friedliche Machtübergabe" an eine "Übergangsregierung" zu. Ein Taliban-Sprecher sagte dem britischen Sender BBC, die Miliz strebe einen "friedlichen Machttransfer" innerhalb der "kommenden Tage" an. "Im besten Fall kommen Regierung und Taliban zu einer Übereinkunft und es bleibt friedlich in Kabul. Das könnte den Weg für einen Waffenstillstand und künftige Schritte für eine Lösung des Konflikts ebnen," erklärt Nasruhhal Stanakzai, der an der Kabuler Universität lehrt, im Gespräch mit der DW.
Sitzung des Weltsicherheitsrates
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen will sich an diesem Montag mit der brisanten Lage am Hindukusch befassen. UN-Generalsekretär Antonio Guterres äußerte sich tief besorgt und rief die islamistischen Aufständischen sowie alle anderen Konfliktparteien zu "äußerster Zurückhaltung" auf. Die Vereinten Nationen seien weiter entschlossen, zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts beizutragen sowie die Menschenrechte aller Afghanen, insbesondere die von Frauen und Mädchen, zu fördern. Überdies gelte es, lebensrettende humanitäre Hilfe und wichtige Unterstützung für Zivilisten in Not zu leisten, sagte er.
Eine Stadt nach der anderen
Die Islamisten hatten in den vergangenen Tagen eine afghanische Stadt nach der anderen eingenommen, zuletzt auch das strategisch wichtige Dschalalabad im Osten und den früheren Bundeswehr-Standort Masar-i-Scharif im Norden. Unter den Bewohnern von Kabul breitete sich am Sonntag Panik aus, vor den Banken bildeten sich lange Schlangen. Vielerorts herrschte Angst davor, dass die Hauptstadt im Chaos versinken könnte.
Die Geschwindigkeit des Taliban-Vormarsches seit dem Beginn des Abzugs der NATO-Truppen im Mai löste international Fassungslosigkeit aus. Die USA waren nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington an der Spitze einer internationalen Militärkoalition in Afghanistan einmarschiert und hatten die damals dort herrschenden Taliban von der Macht vertrieben. Begründet wurde der Einsatz damit, dass Afghanistan ein Rückzugsort für Extremisten des Terrornetzwerks Al-Kaida war, das die Anschläge auf Befehl von Osama bin Laden verübt hatte.
ml/nob/gri (afp, rtr, dpa, ap)