Wer braucht eigentlich Nord Stream 2?
8. September 2020Auch wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel lange das Gegenteil behauptete: Die Nord-Stream-Pipeline war nie ein rein wirtschaftliches Projekt.
Sicher, es wurden immer wieder wirtschaftliche Argumente angeführt: Das russische Gas sollte die zurückgehende Förderung in Norwegen, den Niederlanden und anderen europäischen Ländern ausgleichen und außerdem die deutsche Energiewende mit dem Ausstieg aus Kernkraft und Kohle ermöglichen. Doch Russland ging es vor allem um einen direkten Zugang nach Deutschland, ohne von Transitländern wie der Ukraine oder Polen abhängig zu sein.
Seit fast neun Jahren strömt jetzt schon Gas durch die Pipeline Nord Stream 1. Die nun diskutierte Pipeline Nord Stream 2, der noch rund 160 Kilometer zur Vollendung fehlen, sollte die Kapazität auf 110 Milliarden Kubikmeter verdoppeln.
Wirklich benötigt wird das zusätzliche Gas aber nicht. "Nord Stream 2 ist nicht unabdingbar für die Versorgungssicherheit in Deutschland und in Europa", sagt Christoph Weber, Professor für Energiewirtschaft an der Universität Duisburg-Essen. "Es gibt Zugang zu Erdgas aus unterschiedlichen Quellen, ob aus Norwegen, aus den USA oder Nordafrika", so Weber zur DW.
"Unnötig, schädlich, unrentabel"
Auch Marc Oliver Bettzüge, Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts (EWI) an der Universität Köln, sieht keine Angebotslücke, wenn Nord Stream 2 nicht zu Ende gebaut würde.
Umgekehrt hielten sich auch die positiven Effekte der umstrittenen Pipeline in Grenzen, wenn sie fertiggestellt würde. Die Gaspreise in Europa würden dann "spürbar, wenngleich nicht dramatisch" sinken, so Bettzüge in der FAZ, und zwar um "etwa fünf Prozent". Das hatten Experten des EWI im Rahmen einer von Nord Stream 2 finanzierten Studie berechnet, die im April publiziert wurde.
Härter fiel das Urteil der Energieexperten am renommierten deutschen Wirtschaftsforschungsinstitut DIW aus. Nord Stream 2 sei "energiewirtschaftlich unnötig, umweltpolitisch schädlich und betriebswirtschaftlich unrentabel", so Klaudia Kemfert, Co-Autorin der Studie aus dem Jahr 2018. Selbst russische Analysten bezweifelten, dass sich das Projekt für den russischen Gazprom-Konzern rechnet.
Im Gegensatz zu Nord Stream 1, bei der europäische Firmen wie Eon aus Deutschland und Engie aus Frankreich beteiligt sind, gehört Gazprom die Betreibergesellschaft der Nord Stream 2 zu 100 Prozent.
Muss der Steuerzahler die Zeche zahlen?
Das heißt aber nicht, dass ein Ende der Pipeline nur Gazprom schaden würde. Fünf europäische Energieversorger tragen jeweils zehn Prozent der Gesamtkosten von rund zehn Milliarden Euro: Uniper (früher Eon) und Wintershall DEA (beide Deutschland), Royal Dutch Shell (Niederlande und Großbritannien), OMV (Österreich) und Engie (Frankreich).
"Für die Unternehmen stellt sich dann die Frage, ob sie die bereits investierten Beträge wieder zurückbekommen", sagt Energiewirtschaftler Weber. "Wahrscheinlich würden sie versuchen, das bei den für einen Stopp politisch Verantwortlichen einzufordern." Dann müssten am Ende die Steuerzahler einspringen.
Wie Russland auf ein Ende des Projekts reagieren würde, ist ebenfalls offen. "Russland wird geltend machen, dass es bisher immer ein zuverlässiger Lieferant war", sagt Weber. "Und es wird dann die Zuverlässigkeit Deutschlands in Frage stellen."
Besteht also die Gefahr, dass Russland seine übrigen Energielieferungen als Druckmittel einsetzt? Timm Kehler, Vorstand von "Zukunft Erdgas", einem Branchenverband, hält das durchaus für möglich. "Der Anteil von russischem Erdgas am Erdgasverbrauch in der EU beträgt etwa 40 Prozent", sagte er dem Handelsblatt. "Diese Mengen lassen sich nicht auf die Schnelle ersetzen." In Deutschland macht russisches Gas sogar gut die Hälfte des Gesamtverbrauchs aus.
Eine Frage der Werte
Was also tun? "Es ist die Aufgabe der Politik, in dieser verzwickten Lagen zu entscheiden. Welche Allianzen sind wichtig?", sagt Energieökonom Weber. "Als Wissenschaftler kann man immer nur einen Teilaspekt beleuchten." In dieser Funktion wünscht er sich klare und einheitliche Rahmenbedingungen für die CO2-Bepreisung. Dann würden Umweltaspekte bei der Berechnung der Wirtschaftlichkeit solcher Projekte stärker berücksichtigt.
Rein als Privatperson hat Weber Verständnis für die Forderung, Nord Stream 2 zu stoppen. "Ich persönlich denke, Deutschland und Europa müssen als Wertegemeinschaft auch zu ihren Werten stehen. Dazu kann im Extremfall auch so eine Entscheidung gehören."
Allerdings ist das ein Argument, das in der Politik traditionell wenig Beachtung findet. Nachdem der Journalist Jamal Kashoggi 2018 im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul ermordet worden war, setzte Deutschland seine Waffenexporte in das Land nur kurz aus. Darüber, den Saudis zur Strafe kein Öl mehr abzukaufen, wurde nicht einmal diskutiert.