Was läuft schief in Afghanistan?
9. Dezember 2015"Wir bleiben", bekundete Ursula von der Leyen bei ihrem Truppenbesuch im Camp Shaheen. Es habe sich gezeigt, dass Afghanistans Partner "zu schnell, zu ehrgeizig den Rückzug der internationalen Gemeinschaft aus Afghanistan geplant" hätten. Dies sei auch ein "falsches Signal" an die radikalislamischen Taliban gewesen, die ihre Chance zum Sturz der Regierung gewittert hätten. Ein Schuldeingeständnis, aus dem erst die NATO, später die Bundesregierung ihre Konsequenzen zog: 12.000 ausländische Streitkräfte bleiben auch nach Jahresende im Land, um die afghanische Armee weiter auszubilden. Die Bundeswehr stockt ihre Truppen gar von 850 auf bis zu 980 Soldaten auf.
Fast ein Jahr, nachdem die NATO im vergangenen Jahr offiziell ihre Mission International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan beendete, scheint das Ergebnis des Abzuges verheerend: Ein nie dagewesenes Niveau der Gewalt, die höchste Zahl ziviler Opfer seit dem Beginn der Intervention und wiedererstarkte Taliban, die erneut Teile des Landes kontrollieren. Dazu kommen eine marode Wirtschaft, fehlende Infrastruktur und politische Eliten, die in Korruption und Machtkämpfe verstrickt sind.
Hehre Ziele am Hindukusch
Dabei sei die internationale Gemeinschaft 2001 angetreten, Afghanistan vom Terrorregime der Taliban zu befreien und in dem zentralasiatischen Land "einen modernen, demokratischen und wirtschaftsliberalen Staat aufzubauen", erklärt Politikwissenschaftler Conrad Schetter von der Universität Bonn.
Doch von Anfang an seien die Weichen falsch gestellt worden, sind sich Experten einig. Thomas Ruttig, Co-Direktor des unabhängigen Think Tanks Afghanistan Analysts Network, argumentiert, nach dem Sieg über das Taliban-Regime habe man "Ansätze versäumt, diese ins politische System zu integrieren." Und das, obwohl die Taliban "militärisch geschlagen und politisch geschwächt" gewesen seien. Mit den Folgen dieser maßgeblich von US-Präsident George Bush geprägten "Wir-reden-nicht-mit-Terroristen"-Politik kämpfen die in Afghanistan engagierten Staaten noch heute.
Darüber hinaus hätten die USA weder den damaligen afghanischen Präsidenten Hamid Karzai in politische Entscheidungen mit einbezogen, noch den Aufbau staatlicher Institutionen vorangetrieben, so Ruttig. Ein Machtvakuum entstand, das von jenen gefüllt wurde, denen man eigentlich jeglichen Einfluss in Afghanistan verwehren wollte: erst von lokalen Warlords, später den Taliban.
Keine Strategie für Kundus
Eine Entwicklung, die auch den Deutschen zum Verhängnis wurde. Erst im September überrannten hunderte Talibankämpfer die Provinzhauptstadt Kundus, ohne auf nennenswerte Gegenwehr der einheimischen Truppen zu stoßen. Bis vor zwei Jahren hatte die Bundeswehr die Sicherheitsverantwortung in Kundus.
Den Misserfolg der deutschen Strategie in der Region führt Conrad Schetter auf eine fehlende Strategie zurück: "Die Bundeswehr wusste bis vor sechs, sieben Jahren gar nicht, in welchem Konfliktfeld sie agiert. Für viele Entscheidungsträger im Militär war es maßgeblich, Bündnistreue zu zeigen. Selbst hatten sie keinen weitreichenden Plan, was man in Kundus erreichen wollte." Eine eigene europäische, geschweige denn deutsche Afghanistan-Politik habe gefehlt.
Fehlinformationen und Wunschvorstellungen
"Man hat am Anfang sogar aktiv die Konfliktlinien, die es dort gab, ignoriert. Diese verliefen eben nicht zwischen den Taliban und der Regierung, sondern zwischen vielen bewaffneten Gruppen, die mit der afghanischen Regierung verbunden waren", erläutert Thomas Ruttig. Stattdessen hielt die Bundeswehr an lokalen Machtstrukturen fest und kooperierte mit den etablierten Eliten. Warlords besetzten Gouverneurs-, Polizei- oder Geheimdienstposten - finanziert durch deutsche Entwicklungsgelder.
Unfreiwillig stärkte die Bundesrepublik damit die Taliban, die sich gegen die Warlords zu machtvollen Gruppen formierten. Afghanistan-Experte Ruttig schlussfolgert: "Deutschland hat im Grunde Kundus wie eine Insel behandelt, hat sich selbst eingeredet, dort wäre es stabil. Dabei war vorausgesagt worden, dass diese internen Konfliktlinien aufbrechen können."
Neue Mission: Hilfe zur Selbsthilfe
Als es soweit war, hatte sich die internationale Allianz längst aus Afghanistan zurückgezogen. Die neue Devise lautete: Die afghanische Armee soll lernen, ihr Land selbst zu verteidigen. Das sieht die "Resolute Support Mission" vor. Die internationalen Truppen dürfen nicht mehr selbst in Kämpfe eingreifen, sondern lediglich die heimischen Sicherheitskräfte ausbilden, anleiten und unterstützen.
Die Entwicklung vom Beginn der Intervention bis zum aktuellen Ausbildungseinsatz der NATO fasst Schetter so zusammen: "Die Strategie der internationalen Gemeinschaft ist über die Jahre immer mehr zusammengeschrumpft. Ging es vor 15 Jahren noch um den Aufbau von Zivilgesellschaft und Demokratie, beschränkte man sich irgendwann auf den Aufbau von Staatlichkeit, dann auf das Schaffen von Sicherheit und am Ende nur noch auf Stabilität."
Reine Symbolpolitik
Zum jetzigen Zeitpunkt ginge es den militärisch beteiligten Staaten nur noch darum, sich aus der Affäre zu ziehen, so Schetter. Bei der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan kein leichtes Vorhaben. So musste von der Leyen nun zugeben: "Die afghanische Armee ist noch nicht so weit, dass sie ganz allein die Verantwortung übernehmen kann."
Doch was tun mit dieser Einsicht? Thomas Ruttig bringt die Ausweglosigkeit der Situation auf den Punkt: "Ich glaube, dass es weder hilft, die Truppen abzuziehen, noch die Truppen dort zu behalten." Es sei vielmehr an der Zeit, Frieden durch politische Verhandlungen herzustellen. Das habe man viel zu lange versäumt, betont er. "Der Beschluss der Bundesregierung, ein paar mehr Soldaten in Afghanistan zu lassen, ist Symbolpolitik, die signalisieren soll, dass man etwas tut. Militärisch ist das irrelevant."