Was die VW-Probleme über Deutschlands Wirtschaft verraten
10. September 2024Die Ankündigung von Volkswagen, sein Sparprogramm werde Arbeitsplätze kosten und wahrscheinlich zur Schließung von Produktionsstätten führen, ist eingeschlagen wie eine Bombe. VW muss in den kommenden drei Jahren rund zehn Milliarden Euro einsparen - und von möglichen Standortschließlungen könnten auch deutsche Werke betroffen sein.
Die dunklen Wolken über Deutschlands wichtigstem Autobauer und größtem industriellen Arbeitgeber ziehen sich bereits seit einigen Jahren zusammen: wegen steigender Produktionskosten, der Schwäche der heimischen Wirtschaft im Zuge der Corona-Pandemie und auf Grund des zehrenden Wettbewerbs mit China. Die Umstellung auf Elektroantriebe drückt zusätzlich auf Gewinn und Umsatz.
Die Konkurrenz holt auf
Die schmerzhaften Einschnitte bei VW sind nur ein Symptom, das zeigt, woran die 4,2-Billionen-Euro (4,64 Milliarden US-Dollar) starke deutsche Volkswirtschaft krankt. Die Unterbrechung von Lieferketten, die Energiekrise - unter anderem als Folge des weitgehenden Wegfalls russischer Gasimporte - und der Verlust der Wettbewerbsstärke haben bei VW das Wachstum ausgebremst.
"Volkswagen steht für den Erfolg der deutschen Wirtschaft in den vergangenen 90 Jahren", so Carsten Brzeski, Chefökonom der ING-Bank in der vergangenen Woche zur DW. "Diese Geschichte zeigt, was vier Jahre wirtschaftlicher Stagnation und zehn Jahre stetig schwindender Wettbewerbsfähigkeit für eine Volkswirtschaft bedeuten. Sie machen Investments immer unattraktiver."
Deutschlands Wirtschaft ist nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes im vergangenen Jahr um 0,3 Prozent geschrumpft. Drei führende Wirtschaftsinstitute sagen ein Nullwachstum für dieses Jahr voraus. Das steht in krassem Gegensatz zu den zehn Wachstumsjahren vor der Pandemie, die die erfolgreichsten seit der Wiedervereinigung waren.
Sind die Tage der deutschen Industrie gezählt?
Die Ankündigung von Volkswagen weckt, neben schlechten Nachrichten anderer Industrieriesen wie BASF, Siemens und ThyssenKrupp, düstere Zukunftsängste: Das Land könnte seine besten Tage hinter sich haben und sein wirtschaftlicher Abstieg sei unvermeidlich.
"Die Aussichten bei VW sind sicher symptomatisch für eine breitere Krise der deutschen Industrie und weniger ein isolierter Fall", sagt Franziska Palmas, Ökonomin bei Capital Economics in London, der DW. Sie verweist darauf, dass die Industrieproduktion im Juli beinah zehn Prozent unter dem Niveau von Anfang 2023 lag. Mittlerweile befinde sich die Industrieproduktion in einem sechsjährigen Abwärtstrend, so Palmas.
Zusätzlich zu den Problemen der Auto-Branche kommt laut Palmas ein "permanenter Verlust an Produktionskapazitäten in energieintensiven Industrien" seit 2022 hinzu, befeuert durch den Überfall Russlands auf die Ukraine. Capital Economics erwartet, dass der Anteil des industriellen Sektors an Deutschlands Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den kommenden zehn Jahren sinken wird.
Erfolg der Populisten behindert Reformen
Sudha David-Wilp, Direktorin des Berliner Büros der US-Denkfabrik German Marshall Fund, ist der Ansicht, die Schwierigkeiten Deutschlands hätten darin ihren Ursprung, dass verschiedene Regierungen sich gescheut hätten, schmerzhafte, aber notwendige Reformen anzugehen. Einer der Gründe dafür sei der Aufstieg von Parteien wie der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) in den vergangenen zehn Jahren.
"Die Jahre unter Frau Merkel", so David-Wilp zur DW, "waren recht bequem für Deutschland und das Land war reich genug, durch die COVID-19-Pandemie zu kommen. Doch angesichts des Erfolges der Populisten möchten die etablierten Parteien, dass sich die Deutschen wirtschaftlich sicher fühlen, damit sie nicht auf Parteien hereinfallen, die Angst schüren."
Diese Strategie schiebe das Unvermeidliche nur auf, während der Gegenwind durch billigere Konkurrenz zunimmt, die zunehmend am deutschen Anteil der Weltwirtschaft nagt, so David-Wilp. Außerdem bedrohten internationale Risiken - besonders zwischen dem Westen einerseits und Russland und China andererseits - die Globalisierung, dessen Profiteur Deutschkand ist.
VW-Pläne sind ein Weckruf
"Die Welt ändert sich, wie auch die Quellen unseres Wirtschaftswachstums", sagt ING-Ökonom Brzeski. "Die Probleme von VW sollten der endgültige Weckruf für Deutschlands Politiker sein, um durch Investitionen und Reformen das Land wieder attraktiver zu machen."
Wie schnell es aber zu Reformen kommen wird, ist unsicher. Die sogenannte Schuldenbremse, die das jährliche Haushalts-Defizit auf 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung beschränkt und die Konflikte der Parteien in der Regierungskoalition über den Haushalt 2025 zeigen, dass es nur wenig Spielraum für fiskalische Anreize gibt.
Ungeachtet der vielen schlechten Nachrichten bleibt Deutschland ein wichtiges Ziel für internationale Investments. Konzerne wie Google, Microsoft, Eli Lily, Amazon und der chinesische Autobauer BYD haben in den vergangenen achtzehn Monaten gewaltige Investitionen angekündigt. Berlin hat Subventionen von rund 20 Milliarden Euro, die die heimische Halbleiter-Produktion in Ostdeutschland anschieben sollen, zurückgestellt und unterstützt die Investitionen von Intel und dem taiwanesischen Chiphersteller TSMC.
Neue Industrien drängen in Deutschland voran
Biotechnologie, Grüne Technologien, Künstliche Intelligenz (KI) und die Rüstungsproduktion seien weiter wachsende Sektoren der deutschen Wirtschaft, sagt David-Wilp. Die Bundesregierung könnte sie weiter fördern und somit eine neue industrielle Strategie begründen.
Es sei nicht alles schlecht, es gebe durchaus Möglichkeiten zu künftigem Wachstum, sagt sie. "Die Dinge müssen erst schlechter werden, bevor es wieder aufwärts geht und dieser Innovationsgeist muss wiederbelebt werden."
Reformen müssen wohl warten bis nach der nächsten Bundestagswahl, die für den September 2025 geplant ist. Dann könnte die Koalition von Kanzler Scholz, das Ampelbündnis aus SPD (Sozialdemokraten), Grünen und FDP (Liberale), abgelöst werden.
Das gegenwärtige Leid erinnert an die Krise der späten 1990er und frühen 2000er Jahre, als Deutschland als der "kranke Mann Europas" galt. FDP-Finanzminister Christian Lindner bestreitet allerdings, dass die Schwarzmaler diesmal Recht haben. Im Januar 2024 sagte er den Delegierten des Weltwirtschaftsgipfels noch, Deutschland sei eher ein "müder Mann", der nur "eine starke Tasse Kaffee " in Form von Strukturreformen brauche.
Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen adaptiert