VW-Krise: Zeitenwende beim Autobauer
3. September 2024Das hat es noch nicht gegeben: Zum ersten Mal in seiner Unternehmensgeschichte stellt Volkswagen seine Werke in Deutschland zur Disposition. Bislang galten Werksschließungen bei den Wolfsburgern als ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass der größte industrielle Arbeitgeber in Deutschland seine seit 30 Jahren geltende und bis 2029 laufende Beschäftigungssicherung kündigen will.
Das wäre ein echter Paradigmenwechsel. Denn Volkswagen war von Anfang an eher ein Staatsunternehmen unter Führung der Familie Porsche und ist jetzt ein an der Börse notierter Konzern, der zu einem Fünftel dem Steuerzahler gehört. Und zwar über das Bundesland Niedersachsen, das auch im Aufsichtsrat sitzt. So war der Bestand von Firma und Arbeitsplätzen immer auch eine Frage der Staatsraison.
Angespannte Lage
Das könnte sich nun ändern, denn das Management sieht das Unternehmen in einer ernsten Schieflage. Im vergangenen Jahr war ein Sparprogramm aufgelegt worden, das Entlastungen von zehn Milliarden Euro bis 2026 bringen sollte. Nach Handelsblatt-Recherchen sollen nun aber vier Milliarden Euro zusätzlich eingespart werden.
VW-Chef Thomas Schäfer erklärte in einem Schreiben an die Belegschaft am Montag (02.09.2024), die Lage sei "äußerst angespannt" und durch "einfache Sparmaßnahmen" nicht mehr zu entschärfen. Der europäische Automarkt befinde sich in einer "äußerst herausfordernden und ernsten Situation", assistierte Konzernchef Oliver Blume. Deutschland sei bei der Wettbewerbsfähigkeit weiter zurückgefallen. Dem müsse das Unternehmen Rechnung tragen.
Deshalb müssten die Marken innerhalb der Volkswagen AG umfassend neu strukturiert werden. Dabei seien auch "Werksschließungen nicht mehr ausgeschlossen." Ein Stellenabbau durch Altersteilzeit und Abfindungen reiche jetzt auch nicht mehr aus. VW sehe sich "gezwungen, die seit 1994 fortgeschriebene Beschäftigungssicherung aufzukündigen."
"Ein Schlag in die Magengrube"
Konkrete Zahlen, wie viele der rund 120.000 Stellen in Deutschland wegfallen könnte, nannte VW bisher nicht. Auch zu möglichen Standorten, die geschlossen werden könnten, gibt es keine Angaben. Laut Betriebsrat hält der Markenvorstand aber mindestens ein Fahrzeugwerk und eine Komponentenfabrik in Deutschland für entbehrlich.
Dazu könnte auch das Werk im niedersächsischen Emden gehören. Oberbürgermeister Tim Kruithoff beschrieb gegenüber der DW, wie wichtig VW als Arbeitgeber für die Hafenstadt ist: "Volkswagen und die Meyer-Werft gehören zu den großen Arbeitgebern der Region." "Der Wohlstand Ostfrieslands", so Kruithoff weiter, "hängt wesentlich von diesen Unternehmen ab." Gerade eine strukturschwache Gegend leidet, wenn ein großer Arbeitgeber sich zurückzieht. Kruithoff: "Jeder tarifgebundene Industriearbeitsplatz der verloren geht, ist ein Schlag in die Magengrube der ganzen Region."
Wider die Rambos!
Die Gewerkschaften jedenfalls stehen an seiner Seite. IG-Metall-Bezirksvorstand Thorsten Gröger sprach von einem "unverantwortlichen Plan". Und weiter: "Dieser Kurs ist nicht nur kurzsichtig, sondern hochgefährlich - er riskiert, das Herz von Volkswagen zu zerstören", zitiert ihn die Nachrichtenagentur Reuters. "Wir werden mit aller Kraft, notfalls im harten Konflikt, für den Erhalt aller Standorte sowie der Jobs unserer Kolleginnen und Kollegen kämpfen."
Jan Mentrup von der IG-Metall Niedersachsen fand DW gegenüber deutliche Worte: "Wir können den Rendite-Rambos in der VW-Chefetage nur raten, den Finger von den Tarifverträgen und der Beschäftigungssicherung zu lassen. Was es stattdessen braucht, sind zukunftsfähige Produkte, die von den Kundinnen und Kunden nachgefragt werden.
Die Pläne des Managements, aber vor allem seine Zurückhaltung bei der Frage, wen es wie treffen wird, bringen den Betriebsrat in Harnisch: "Damit geraten alle deutschen Standorte in den Fokus - egal ob Standort der Volkswagen-AG oder Tochter-Standort, egal ob west- oder ostdeutsch", so Thorsten Gröger. Gesamtbetriebsratschefin Daniela Cavallo kündigte "erbitterten" Widerstand an: "Mit uns wird es keine Standortschließungen geben."
Aber bitte ohne Staat!
Viele Experten halten Werksschließungen bei VW in Deutschland indes für unausweichlich. Daran führe "kein Weg vorbei", so die Direktorin des Center Automotive Research (CAR) in Duisburg, Helena Wisbert, am Dienstag im Spiegel. Bislang konnten geringe Auslastungen der Werke durch Einsparungen bei Zulieferern ausgeglichen werden. "Das reicht offenkundig nicht mehr aus", sagte sie dem Magazin.
Auch der Präsident des Kiel Institut für Weltwirtschaft, Moritz Schularick, sieht die angekündigten Sparmaßnahmen als Beginn des Wandels in der deutschen Autoindustrie. Der Wirtschaftswoche sagte Schularick, das sei aber kein Grund für staatliche Eingriffe bei Automobilunternehmen: "Wir sollten dem Strukturwandel nicht im Wege stehen. Aufstrebende Branchen suchen händeringend Arbeitskräfte".
Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm denkt, es könne "durchaus zu Werksschließungen kommen". Der Staat solle sich aber "da raushalten", sagte sie der Rheinischen Post. Die Autoindustrie habe lange in Brüssel gedrängt, die Transformation hinauszuschieben und auch die Politik habe "lange Zeit nicht vorausschauend agiert".
"Die Konstitution hängt schief"
Der Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer spricht von einem "steinalten VW-Problem". VW sei "eher ein Staatsbetrieb als ein marktwirtschaftliches Unternehmen". Das Problem werde bestehen bleiben, "weil die Konstitution von VW schief hängt". Das Land Niedersachsen besitzt nicht nur 20 Prozent des Unternehmens und sitzt auch im Aufsichtsrat der Autobauer, das sogenannte VW-Gesetz sichert dem Land zudem eine Sperrminorität bei wichtigen Fragen.
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) erklärte, es sei unstrittig, dass angesichts der schwierigen Lage bei Volkswagen Handlungsbedarf bestehe. Dazu gehörten auch Kostensenkungen, aber es müsse nun nicht mehr "über das 'Ob', wohl aber über das 'Wie' intensiv zu diskutieren sein". Die Landesregierung erwarte, "dass sich die Frage einer Schließung von Standorten durch die erfolgreiche Nutzung von Alternativen schlichtweg nicht stellt".
"Deutschland deindustrialisiert"
Emdens Oberbürgermeister Tim Kruithoff ist sicher, dass es für seine Stadt nicht ganz so schlimm kommen wird. Der DW sagte er: "Ich bin fest davon überzeugt, dass das Werk Emden nicht von einer Schließung betroffen ist." Er vertraut dabei auf auf die Weitsicht des VW-Vorstandes, denn der habe "in den letzten Jahren mehr als eine Milliarde Euro investiert und das Werk für die Zukunft der Elektromobilität "ready" gemacht."
Aber Kruithoff spart auch nicht mit Kritik. Für ihn ist "die kurzfristige Rücknahme der Förderung der Elektromobilität eine absolute Fehlentscheidung." Und auch generell sieht er die Verantwortung für die aktuelle Misere nicht nur bei VW, sondern auch bei der Politik: "Deutschland deindustrialisiert und verliert Industriearbeitsplätze. Für die Ansiedlungen von Zukunftstechnologien - wie Batteriezellenfertigungen - ist unser Land aktuell nicht wettbewerbsfähig. Und dann haben wir noch nicht einmal über Alltagsthemen wie die Ladeinfrastruktur gesprochen."