Wahlen in Frankreich: Rückschlag für die Achse Paris-Berlin?
Veröffentlicht 29. Juni 2024Zuletzt aktualisiert 1. Juli 2024Deutsche Politiker fühlen sich nach dem ersten Wahldurchgang in Frankreich in ihrer Sorge um die deutsch-französischen Beziehungen bestätigt. Ricarda Lang von den Grünen und Mario Voigt von der CDU haben in Interviews gesagt, Präsident Emmanuel Macron habe einen Fehler gemacht, Neuwahlen anzusetzen.
Macron wollte "Klarheit" nach der Schlappe seines liberalen Blocks bei der Europawahl Anfang Juni. Jetzt hat der rechtsnationale Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen einen weiteren Sieg errungen.
Was bedeutet der Rechtsruck für die deutsch-französischen Beziehungen? RN-Parteichef Jordan Bardella hat kurz vor der Wahl gesagt, dass er als Regierungschef an den Beziehungen mit Berlin zunächst nichts ändern würde.
Doch das soll nur beruhigen, meint Ronja Kempin, Frankreich-Expertin von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Der RN habe sich bisher immer "sehr deutschlandkritisch, bisweilen fast deutschlandfeindlich geäußert. Macron sei vorgeworfen worden, französische Interessen an Deutschland verkauft zu haben, und man wolle das rückgängig machen, sobald es eine Machtoption gäbe".
Im RN-Programm stand bis vor kurzem noch, die deutsch-französischen Projekte eines gemeinsamen deutsch-französischen Kampfflugzeugs und eines gemeinsamen Kampfpanzers sollten beendet werden. Bardella hat jetzt gesagt, man wolle die internationalen Verpflichtungen Frankreichs einhalten; das könnte sich auch auf die beiden Rüstungsprojekte beziehen.
Viel Konfliktstoff in Berlin
Auch Marc Ringel, Direktor des Deutsch-Französischen Instituts im baden-württembergischen Ludwigsburg, sähe im Fall einer RN-Regierung Schwierigkeiten auf das bilaterale Verhältnis zukommen. So würde sich für die Bundesregierung bereits ganz praktisch die Frage stellen: "Wer wäre jetzt der Ansprechpartner, wo der Kontakt zum RN ja nicht vorhanden ist? Dann natürlich die Frage: Hält sich die neue französische Regierung an die bilateralen Verträge? Politisch wäre da einiges an Unsicherheit dabei."
Konfliktstoff mit der EU und mit Berlin wären etwa diese Punkte im RN-Wahlprogramm: eine Verringerung des französischen EU-Beitrags, ein Ausstieg aus dem EU-Strommarkt, eine Aufkündigung des Migrationspakts oder auch eine Einschränkung der Reisefreiheit von Nicht-EU-Ausländern – wobei natürlich unklar ist, inwiefern solche Pläne wirklich umgesetzt würden. Auch die französische Unterstützung der Ukraine könnte zurückgefahren werden.
"Brandmauer" in Frankreich ist eingestürzt
Was ist der Grund für den Aufstieg der Partei? Marc Ringel nennt unter anderem einen "allgemeinen Frust in der Bevölkerung mit der Politik und zunehmend ein Gefühl, abgehängt zu sein. Diese Unzufriedenheit hat der RN sehr clever aufzunehmen gewusst".
Neben den großen Themen Migration und innere Sicherheit setzt die Partei zunehmend auch auf wirtschaftliche und soziale Dinge. So will sie die Mehrwertsteuer auf Energie von 20 Prozent auf 5,5 Prozent senken.
Dazu betreibt Marine Le Pen seit Jahren eine Entdämonisierung ihrer Partei. Ihren Vater Jean-Marie Le Pen, der einst den Holocaust relativierte und damit die Partei für breite Schichten unwählbar machte, schloss Marine Le Pen aus. Der Rassemblement National gibt sich politisch kompromissbereit.
Eine "Brandmauer" wie in Deutschland, wo die CDU jede Zusammenarbeit mit der AfD ablehnt, gibt es in Frankreich nicht mehr. Der RN ist seit 2022 die größte Oppositionspartei in der Nationalversammlung. Das Präsidentenlager hat zahlreiche Gesetze mit der Zustimmung des RN verabschiedet, zum Beispiel eine Verschärfung des Einwanderungsgesetzes.
"In Frankreich ist der RN sehr viel gezügelter, als es die AFD in Deutschland ist", sagt Ronja Kempin. "Sie lehnt völkische Gedanken vollständig ab." Marine Le Pen hat sich auch deutlich von der AfD distanziert und lehnt eine Zusammenarbeit im Europaparlament mit ihr ab.
Der RN ist nach dem ersten Durchgang der Wahl zur Nationalversammlung mit rund 33 Prozent stärkste Partei geworden. Mit rund 28 Prozent folgt dahinter das teilweise weit links stehende Bündnis Neue Volksfront. Erst auf dem dritten Platz und deutlich abgeschlagen mit etwa 20 Prozent steht das liberale Lager von Macron.
Nun kommt es auf den entscheidenden zweiten Wahldurchgang am 7. Juli an. Führende Vertreter der Linken und des zentristischen Blocks von Macron haben angekündigt, sie würden ihre Kandidaten in Bezirken zurückziehen, in denen ein anderer Kandidat bessere Chancen hätte, die extreme Rechte zu schlagen.
Macron schließt Rücktritt aus
Deshalb ist unsicher, ob der RN auf die absolute Mehrheit kommen wird. Doch nicht überall dürften solche Absprachen zur Verhinderung des RN funktionieren. Fest steht schon jetzt: Der Rassemblement National ist kein Außenseiter mehr und für breite Schichten wählbar geworden.
Zwar wird Macron in jedem Fall Präsident bleiben, weil der Staatschef unabhängig vom Parlament vom Volk gewählt wird und er einen Rücktritt ausgeschlossen hat. Aber sein Spielraum dürfte in Zukunft stark eingeengt sein: Macron könnte in Zukunft mit dem jungen RN-Parteichef Jordan Bardella als Ministerpräsidenten zusammenarbeiten müssen.
Sollte der RN nach der Stichwahl aber eine absolute Mehrheit verfehlen, könnte eine Alternative drohen, die dem Präsidenten ebenso zu schaffen machen würde: eine Pattsituation in der Nationalversammlung, bei der sich rechte und linke Kräfte gegenseitig blockieren.
Das Ziel des RN: eine Staatspräsidentin Marine Le Pen
Für RN-Parteichef Jordan Bardella wäre eine Regierung unter seiner Führung aber nur ein Zwischenziel. Bei der Präsidentschaftswahl 2027, bei der Macron nicht mehr antreten kann, soll Marine Le Pen erneut kandidieren - es wäre das vierte Mal – und dann Staatspräsidentin werden.
Sollte das gelingen, "dann hätten wir auf jeden Fall ein sehr anderes Europa", glaubt Ronja Kempin. Zwar ist ein Austritt Frankreichs aus der Europäischen Union und aus dem Euro längst kein Thema mehr – da hat Marine Le Pen aus vergangenen Misserfolgen gelernt.
Marc Ringel hält es dagegen für viel wahrscheinlicher, "dass ähnlich wie Giorgia Meloni in Italien auch Marine Le Pen in der EU bleiben würde, um die EU von innen umzukrempeln, auszuhöhlen, nach ihren Vorstellungen umzugestalten".
Frage an die Bundesregierung
Für die Berliner Regierung könnten sich aber bereits nach der zweiten Runde der Parlamentswahl unbequeme Fragen stellen. Denn sowohl der RN als auch das Linksbündnis planen bei einem Wahlsieg hohe staatliche Mehrausgaben.
"Frankreich steht aber bereits finanziell mit dem Rücken zur Wand, hat eine extrem hohe Staatsverschuldung", sagt Ronja Kempin. Europa könne eine neue Staatsschuldenkrise wie vor 15 Jahren drohen.
"Das bedeutet für Deutschland die Gretchenfrage", sagt Kempin: "Wie halten wir es mit Europa? Lassen wir uns darauf ein, beispielsweise über eine Schuldenhaftung in der Europäischen Union doch neu nachzudenken in der Hoffnung, dass das das Schreckgespenst des Rassemblement National mindestens für 2027 unmöglich macht?" Die Bundesregierung hat bisher nicht gesagt, was dann ihr Plan ist.
Dieser Text erschien erstmals am 29.06.2024 und wurde am 01.07.2024 nach dem ersten Wahldurchgang aktualisiert.