Bolsonaros dröhnendes Schweigen
31. Oktober 2022"In jedem Land der Welt hätte mich der unterlegene Kandidat angerufen, um seine Niederlage einzugestehen", sagte der neu gewählte brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva vor jubelnden Anhängern in der Wirtschaftsmetropole São Paulo. "Ich wäre gern nur glücklich, aber ich bin zur Hälfte glücklich, zur Hälfte besorgt."
Amtsinhaber Jair Bolsonaro hat seine Niederlage bislang nicht eingestanden. Er äußerte sich weder in einer Ansprache noch über einen der vielen Online-Dienste, die er sonst gerne und häufig nutzt. Wie Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichteten, verließ Bolsonaro seinen offiziellen Wohnsitz am Montagmorgen ohne Kommentar und fuhr ins Präsidialbüro. Dort arbeite er an einer Rede, sagte Kommunikationsminister Fabio Faria der Nachrichtenagentur Reuters. Am Dienstag werde der Präsident Stellung beziehen.
Zweifel am Wahlsystem gestreut
Nachdem er monatelang Zweifel an der Zuverlässigkeit des Wahlsystems gesät hat, schürt das lange Schweigen Bolsonaros Befürchtungen, er könnte seinem US-Vorbild Donald Trump folgen und das Wahlergebnis nicht anerkennen - womit die brasilianische Demokratie auf eine schwere Belastungsprobe gestellt würde. Der befürchtete Gewaltausbruch frustrierter Bolsonaro-Fans bleibt aber zunächst aus. In verschiedenen Teilen des Landes stecken Fernfahrer Autoreifen in Brand und blockieren Landstraßen, um Bolsonaro zu unterstützen.
Es wird nun darauf ankommen, ob Bolsonaro Öl ins Feuer gießt oder seine Anhänger im Zaum hält. Seit der Lockerung der Waffengesetze haben viele Unterstützer des Ex-Militärs aufgerüstet - und nach dem mit harten Bandagen geführten Wahlkampf liegen bei vielen die Nerven blank. Nun ist es an Lula, die Gräben wieder zuzuschütten und die Menschen miteinander zu versöhnen.
Enorme Erwartungen an den Neuen
Der linksgerichtete Ex-Präsident hatte die Wahl am Sonntag in einem dramatisch knappen Rennen gegen den rechten Bolsonaro gewonnen. Lula bekam in der Stichwahl 50,9 Prozent der Stimmen, Bolsonaro 49,1 Prozent. Es ist das engste Ergebnis einer Präsidentschaftswahl in Brasiliens neuerer Geschichte.
Jetzt startet der 77-jährige Lula noch einmal durch und tritt Anfang kommenden Jahres als erster demokratisch gewählter Präsident Brasiliens eine dritte Amtszeit an. Die Erwartungen an den künftigen Staatschef sind enorm. Der erfahrene Diplomat Lula könnte Brasilien auf dem internationalen Parkett rehabilitieren. Innenpolitisch sieht sich Lula mit einer Hungerkrise im Land konfrontiert sowie mit der Zerstörung des Amazonas-Regenwalds und einer wütenden politischen Rechten. Bei den parallelen Parlaments- und Kongresswahlen erzielten Bolsonaro-Verbündete wichtige Siege. Im neuen Kongress wird das ultrarechte Lager stärkste Kraft sein.
rb/fw (AFP, AP, dpa, Reuters)