Chance für einen Neuanfang durch Lula da Silva
31. Oktober 2022Lange musste der Wahlsieger, der 77 Jahre alte Luiz Inácio Lula da Silva am Sonntagabend warten, bis sein knapper, am Ende aber doch zweifelsfreier Wahlsieg feststand. Mit 50,9 Prozent konnte der Linkspolitiker die Stichwahl um das Präsidentenamt gegen den rechtspopulistischen Amtsinhaber Jair Bolsonaro (49,1 Prozent) für sich entscheiden.
Nach einem überharten, bisweilen von beiden Seiten auch schmutzig geführten Wahlkampf, gab der künftige Präsident, der Brasilien schon einmal von 2003 bis 2011 regierte, noch in der Wahlnacht einen ersten, wenn auch noch oberflächlichen Einblick auf seine insgesamt dritte Amtszeit. Nun warten die Analysten darauf, wer künftig die Wirtschaftspolitik des Landes bestimmen wird. "Die Definition der Mannschaft für die Wirtschaft wird fundamental sein, um die Märkte zu beruhigen", kommentierte die Zeitung Estadao.
Lula signalisiert Verhandlungsbereitschaft
In Richtung Europa signalisierte Lula Verhandlungsbereitschaft, stellte aber klar, dass der eigentlich unterschriftsreife Vertrag über ein EU-Mercosur-Freihandelsabkommen nachverhandelt werden müsse: "Wir haben kein Interesse an Handelsabkommen, die unser Land auf die ewige Rolle des Exporteurs von Waren und Rohstoffen verurteilen." Mercosur ist ein regionaler Zusammenschluss von fünf südamerikanischer Staaten (Mercado Común del Sur – Gemeinsamer Markt des Südens).
Stattdessen müsste Brasilien reindustrialisiert werden. Ähnliches sieht es Professor Roberto Goulart Menezes vom Institut für Internationale Beziehungen der Universität von Brasilia (UnB) im Gespräch mit der DW: "Die künftige Lula-Regierung muss die Bedingungen des Abkommens zwischen dem Mercosur und der Europäischen Union mit Schwerpunkt auf der Frage der Industrie neu bewerten. Lula sollte meines Erachtens versuchen gemeinsam mit dem Mercosur vorzugehen und eine eigene Linie erarbeiten, um den Vertrag ausgewogener zu gestalten."
Hindernis Umwelt scheint lösbar
Das größte Hindernis sei mit der Wahl Lulas aber aus dem Weg geräumt: "Der zentrale Punkt, der die Ratifizierung durch die Europäische Union verhindert hat, wird überwunden: der Umweltbereich", sagt Goulart.
Lula hatte im Wahlkampf eine Null-Abholzungsstrategie im Amazonas-Regenwald versprochen, eine Maßgabe, die bislang noch kein Präsident und keine Präsidentin in Brasilien erreichen konnte. Die EU als auch die deutsche Bundesregierung machte für die Ratifizierung des Abkommens nachprüfbare Fortschritte und überprüfbare Umweltstands zur Voraussetzung. Lula sei im regen Austausch mit den Regierungen Frankreichs und Deutschlands, sagt Goulart Menezes.
Lula muss Agrar-Industrie in die Pflicht nehmen
Doch es sei nicht nur mit einem Umdenken an der Spitze der künftigen brasilianischen Regierung getan. "Die brasilianische Agrarindustrie muss die Maßnahmen der neuen Regierung im Umweltbereich unterstützen. Und Lula muss jene zerstörerischen Agrarunternehmen, die den Amazonas und andere Ökosysteme abholzen, von denen trennen, die tatsächlich Arbeits- und Umweltstandards einhalten", fordert Goulart Menezes.
Die Agrarindustrie braucht dringend jene Koordination, die die Lula-Regierung mit der Europäischen Union anstreben wolle. China, Brasiliens größter Abnehmer, werde mit der neuen Regierung zusammenarbeiten und beim Thema Energiewende helfen. "Ich glaube, dass Lula die ehemalige Umweltministerin Mariana Silva erneut in dieses Amt holen wird, um die weltweite Blockade gegen Brasilien aufzuheben."
Versprechen an die Bevölkerung
In seiner Rede am Wahlabend hat Lula den Menschen ein Versprechen gegeben: "Das brasilianische Volk will gut leben, gut essen, gut wohnen." Das Volk wolle gute Jobs, ein Gehalt, das über die Inflation wachse, sowie eine hochwertige öffentliche Gesundheit und Bildung.
Bei seinem Vorhaben kann Lula auf eine solide Basis setzen: Sowohl die international umstrittene Agrar-Industrie als auch der halbstaatliche Erdölkonzern Petrobras fuhren zuletzt Rekordgewinne ein.