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Von Mossul ist keine Rede mehr

Birgit Svensson10. Juni 2015

Vor einem Jahr eroberten IS-Kämpfer Mossul - und bauen seitdem an ihrem eigenen Staat. DW-Korrespondentin Birgit Svensson hat Audio-Mitschnitte der Schlacht ausgewertet. Sie zeigen das Versagen der irakischen Truppen.

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Einnahme der Stadt Mossul durch die IS Terrormiliz (Foto: AP)
16. Juni 2014 - Demonstranten ziehen mit IS-Flaggen durch das eroberte MossulBild: picture-alliance/AP Photo

"Verdammt nochmal, wo bleiben die Flugzeuge?", schreit der Leutnant ins Telefon, "wir warten schon über eine Stunde!" Adnan ist nervös und drängt den Kommandeur zu einer Antwort. Mahdi al-Gharawi kann nur sagen, dass ihm Luftunterstützung versprochen wurde, die jede Minute eintreffen müsse. Doch die Flugzeuge kommen nicht. Beim nächsten Anruf des Leutnants an den Kommandeur wird dieser vertröstet. Gharawi spräche gerade mit dem Premierminister. Er rufe dann zurück. Unterdessen tobt die Schlacht um Mossul weiter. Stück für Stück nehmen die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates (IS) die Zwei-Millionen-Stadt in ihre Gewalt. Es ist der 10. Juni 2014.

Es entsteht eine chaotische, unübersichtliche Situation. Der Oberkommandierende des Nineva-Einsatzkommandos, das für die Verteidigung Mossuls und der ganzen Provinz im Nordwesten Iraks zuständig ist, ruft nacheinander seine Offiziere an und fragt nach den Stellungen und dem Einsatz der Soldaten. Jetzt ist es Gharawi, der durchs Telefon schreit: "Ich werde sie erschießen lassen, alle die weglaufen." Die Situation spitzt sich zu. Per Handy gibt der Brigadegeneral den Befehl, alle noch verbliebenen Kräfte am Yarmuk-Platz zusammenzuziehen. Als er wenig später seine Offiziere anrufen will, um Meldungen entgegenzunehmen, bekommt er keine Antwort oder die Handys sind ausgeschaltet. Mossul ist in der Hand des IS. Nur vier Tage lang konnte die irakische Armee die zweitgrößte Stadt des Landes verteidigen gegen eine Terrormiliz, die bis dahin niemand richtig ernst genommen hatte, die inzwischen aber die ganze Region in Angst und Schrecken versetzt.

Die 45 Mitschnitte vom Mobiltelefon des Kommandeurs, die der Autorin zugespielt wurden, lassen auf dramatische Weise rekonstruieren, was sich vor einem Jahr in Mossul abgespielt hat. Die Befehle Gharawis sind unkoordiniert, unstrukturiert und unprofessionell. Seinen Untergebenen nennt er nur vage Ortsbezeichnungen. Eine Verteidigungsstrategie ist nicht herauszuhören. Auf die Klagen eines seiner Untergebenen, man habe seit zwei Tagen kein Essen und keine Munition mehr, kommt keine Antwort. Er bleibt auch stumm, als Leutnant Mohsin ihm berichtet, dass die montierten Gewehre auf den Panzern nicht richtig funktionierten und Überwachungssysteme fehlten.

Zerstörung in Mossul (Foto: picture-alliance/AP)
27. Juli 2014 - die IS Terrormiliz zerstörte auch wichtige Moscheen in MossulBild: picture-alliance/AP Photo

Bei der Eroberung von Mossul sind nicht nur Hunderte Soldaten desertiert, sondern auch zahlreiche Waffen und Fahrzeuge aus irakischen Armeebeständen in den Besitz des IS geraten. "Wir haben viele Waffen verloren", gab der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi kürzlich im Staatsfernsehen zu. Außerdem seien 2300 gepanzerte Geländefahrzeuge vom Typ Humvee in die Hände der Extremisten gefallen. Brigadegeneral Gharawi wurde von seinem Posten enthoben und angeklagt. Er selbst sieht sich zu unrecht beschuldigt. Es soll Telefonmitschnitte geben, in denen der damalige Premier Nuri al-Maliki als Oberbefehlshaber der Armee persönlich den Befehl zum Rückzug aus Mossul gab. Ein Untersuchungsausschuss sollte am Jahrestag seinen Bericht vorlegen. Doch die Sitzung wurde vertagt.

IS-Kämpfer mit Flagge und Waffe (Foto: Reuters)
Ein IS-Kämpfer im Juni 2014 in Mossul - der IS hat hier viele Waffen erobertBild: Reuters

Operation zur Rückeroberung abgesagt

Vertagt worden ist auch die Rückeroberung der Stadt. Erst Tikrit, dann Mossul hieß es beständig über Monate sowohl aus dem militärischen Führungskommando in Bagdad, als auch von Mitgliedern der internationalen Allianz, die unter der Führung der USA seit August vergangenen Jahres Luftangriffe gegen den IS im Irak fliegt. Die Großoffensive sollte im April oder Mai starten, das irakische Militär dabei mit kurdischen Truppen zusammenarbeiten. Ein Mitarbeiter des Zentralkommandos des US-Militärs hatte vor Journalisten der New York Times pikante Details ausgeplaudert. Dabei sollten auch amerikanische Spezialkräfte am Boden eingesetzt werden, um Luftangriffe besser koordinieren zu können. Das US-Verteidigungsministerium zeigte sich verärgert über die ungewöhnlich detailgenaue Information über eine noch nicht begonnene Militäroperation. Pentagon-Chef Ashton Carter sprach von einer "irrtümlichen Enthüllung von Militärgeheimnissen". Die Operation wurde abgeblasen.

Stattdessen beschloss die irakische Regierung einen Strategiewechsel: Nicht mehr Mossul sollte als nächstes Rückeroberungsziel gelten, sondern Bagdads westliche Nachbarprovinz Anbar. Von Tikrit aus sollten die Regierungstruppen zunächst die wichtige Raffinerie in Baiji befreien, um dann Richtung Westen nach Anbar zu ziehen. Doch der IS war schneller. Bevor die Truppenverbände verlegt werden konnten, griffen die Dschihadisten mit voller Wucht Ramadi an, die Provinzhauptstadt, die schon seit Monaten umkämpft war und brachten sie vollends unter ihre Kontrolle. Seit zwei Wochen nun läuft eine Gegenoffensive der sogenannten "Hashid al-Shabi", der Volksmobilisierungskräfte, in der irakische Armee, Schiitenmilizen und bewaffnete Sunnitenstämme zusammenarbeiten. Bis jetzt ohne Erfolg.

"Anbar werden wir nie ganz zurückbekommen", prophezeit der irakische Parlamentsabgeordnete Mithal al-Alusi, der selbst aus Anbar stammt. Falludscha, die mit 310.000 Einwohnern größte Stadt der Provinz ist bereits seit Januar 2014 vom IS kontrolliert. Sie war die erste Stadt im Irak, wo die schwarze Dschihadistenfahne gehisst wurde. Mit ihrer Entscheidung, zuerst Anbar zurückerobern zu wollen, werde die irakische Regierung scheitern, prophezeien politische Beobachter in Bagdad. Es sei eine politische und keine militärische Entscheidung gewesen, heißt es aus dem militärischen Oberkommando in der irakischen Hauptstadt. Die Militärs seien dabei überhaupt nicht oder nur unzulänglich konsultiert worden. Die irakischen Politiker hätten dem Schutz Bagdads höhere Priorität eingeräumt, als der Rückeroberung Mossuls, sagt ein Mitglied des Militärrats, der seinen Namen nicht genannt haben möchte. Anbar grenzt unmittelbar an Bagdad.

Irakische Truppen rücken mit Panzer vor (AFP)
26. Mai 2015 - Irakische Truppen starten Gegenangriff auf RamadiBild: A. Al-Rubaye/AFP/Getty Images

Großreinemachen in Mossul

Unterdessen sind hochrangige IS-Mitglieder wieder nach Mossul zurückgekehrt, nachdem sie vor dem drohenden Angriff der internationalen Allianz nach Syrien geflohen waren. Während die Kämpfe in Anbar toben, wähnt man sich offenbar in Mossul sicher. Wie das Nachrichtenportal "Niqash" berichtet, ist momentan Großreinemachen das Gebot der Stunde. Straßen, Plätze und Gehwege werden gefegt und von Müll gereinigt, kaputte Fahrbahnen ausgebessert, Straßenschilder und Ampeln aufgestellt. Mossul sei so sauber wie seit Jahren nicht mehr, erzählen irakische Journalisten aus Mossul in sozialen Medien. Auch die Stromversorgung funktioniere wieder, nachdem es über fünf Monate keine Elektrizität mehr gab.

Verantwortlich für diesen „Sieg“ sei ein Mann namens Abu Obaidah, der 30 Jahre alt ist, Iraker und aus der Provinz Dijala stamme. Sein Ziel sei es zu zeigen, dass der IS die Stadt besser regieren könne, als die Verantwortlichen früher, die jetzt im Exil sitzen. Ob die Terrormiliz die Herzen der Mossulaner damit gewinnt und die Gräueltaten vergessen macht, steht auf einem anderen Blatt. Sicher aber ist, dass sie sich auf eine längere Verweildauer einrichten. Von den Händlern auf dem Markt in Mossul kassiert der IS derzeit eine Jahresgebühr von 1.500 US-Dollar.