Freiwillige Kämpfer werden knapp
20. Mai 2015"Ich lass mich doch von denen nicht verheizen", empört sich Qais vor einem Rekrutierungsbüro im Bagdader Stadtteil Karada, in dem Freiwillige für den Kampf in der Nachbarprovinz Anbar angeworben werden. Der junge Mann kommt aus Basra, der Schiitenmetropole und zweitgrößten Stadt im Süden Iraks.
Er sei dem Aufruf des schiitischen Großajatollahs Ali al-Sistani letztes Jahr im Juni gefolgt, als dieser zur Verteidigung des Vaterlandes und der schiitischen Heiligtümer aufrief. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hatte gerade in einer Blitzaktion Mossul, Tikrit und weite Teile des Nordiraks unter ihre Kontrolle gebracht und befand sich auf dem Vormarsch nach Bagdad.
Auf dem Weg in die irakische Hauptstadt liegt Samarra, ein Heiligtum der Schiiten, das es zu verteidigen galt. Qais wollte nicht zulassen, dass es noch einmal zum Bürgerkrieg kommt, so wie 2006, als die Moschee in Samarra von Al-Qaida-Terroristen zerbombt wurde und das blutige Gemetzel zwischen Schiiten und Sunniten begann, und kämpfte weiter. Er hielt auch noch durch, als die Schiitenmilizen Ende Februar zur Rückeroberung von Tikrit, Hauptstadt der Provinz Salahuddin, von Samarra aus in den Norden zogen. "Aber jetzt Anbar? Die sind doch verrückt", kommentiert der 24-Jährige kurz und knapp die Entscheidung des irakischen Premiers, schiitische Freiwillige in die Schlacht um Ramadi zu schicken. "Anbar ist die Hölle." Wie Qais argumentieren derzeit viele junge Schiiten.
Soldaten laufen weg
Während die erste Mobilisierungswelle von Freiwilligen im letzten Sommer Tausende nach Bagdad in die Rekrutierungszentren strömen ließ, sieht es jetzt eher mager aus. Der Aufruf von Regierungschef Haider al-Abadi "zusammenzustehen und sich zur Unterstützung für die Armee in Anbar zu melden" findet nicht die Resonanz, die Großajatollah Sistani einst fand. Die Regierung in Bagdad riskiert, nicht genug Kämpfer für die Rückeroberung Ramadis einsetzen zu können. Jetzt erwägt Abadi sogar, sunnitische Stammesführer zu bewaffnen, nachdem seine schiitisch geprägte Regierung dies bisher stets abgelehnt hat. Sie befürchtete, dass die Waffen nach erfolgtem Sieg über den IS gegen die Regierung in Bagdad gerichtet werden könnten.
Die Pläne des US-Kongresses im April, sunnitische und kurdische Einheiten in Zukunft direkt zu unterstützen, lösten in Bagdad daher heftige Reaktionen aus. Abadi lehnte jegliche Militärhilfe, die nicht über Bagdad geht, kategorisch ab. Der Kongress in Washington konterkariere seine Politik der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, ließ er damals seinen Sprecher verkünden. Doch die desolate Situation der irakischen Streitkräfte könnte jetzt selbst diese Maßnahme notwendig machen. Fast tausend Sicherheitskräfte sind am Wochenende desertiert, als der IS aufmarschierte, darunter viele Polizisten. Die Angst-und-Schrecken-Taktik der Dschihadisten funktioniert nach wie vor. Ein Gerücht, dass 10.000 finstere Gotteskrieger aus Syrien kommend auf Ramadi zusteuern, ließ die Soldaten Reißaus nehmen. Dass es letztendlich nur etwa 3.000 IS-Kämpfer waren, die die 280.000 Einwohner-Stadt eroberten, erzeugt nun eine Blamage, von der sich die Truppe wohl nicht so schnell erholen wird.
IS richtet sich häuslich ein
Derweil richtet sich der IS in Ramadi ein. Zunächst werden die schwarzen Fahnen überall auf öffentlichen Gebäuden gehisst, Hausdurchsuchungen angeordnet, Bestandsaufnahmen gemacht. Stellungen rund um die Stadtgrenzen werden gesichert, Kontrollpunkte errichtet. Augenzeugen berichten, dass das Treiben der Dschihadisten Routinecharakter aufweise und sehr systematisch vonstatten gehe.
Man bereitet eine längere Verweildauer vor, zumal weitere Orte rund um Ramadi in den letzten Tagen ebenfalls erobert werden konnten und damit einen strategischen Rückhalt für die IS-Kämpfer darstellen. Zusammen mit Falludscha, das bereits seit Anfang 2014 fest in der Hand der Terrormiliz ist, verfügt IS nun über beide Großstädte in Iraks flächenmäßig größter Provinz vor den Toren Bagdads. Nur Abu Ghraib, acht Kilometer von der Hauptstadt entfernt, ist noch unter der Kontrolle der Regierung.
Versagende Armee
Mit der Eroberung Ramadis verzeichnet der IS den größten Landgewinn seit August letzten Jahres, als die Terrorarmee die zweite Angriffswelle startete und die Kurdengebiete im Nordirak angriff. Auch damals haben sich die Soldaten zurückgezogen und das Terrain nahezu kampflos dem IS überlassen, wie schon zuvor im Juni, als er Mossul und Tikrit unter seine Kontrolle brachte. Die Frage tauchte auf, wofür die US-Regierung Millionen von Dollar ausgab, um eine neue irakische Armee aufzubauen, die im Ernstfall versagt? Nach dem Einmarsch der Amerikaner und Briten im Irak und dem Sturz Saddam Husseins 2003, hatte US-Administrator Paul Bremer über Nacht die gesamte irakische Armee aufgelöst, was heute weithin als gravierender Fehler angesehen wird. Ehemalige Offiziere der Saddam-Armee organisierten in der Folge den irakischen Widerstand gegen die US-Besatzung. Falludscha und Ramadi spielten dabei eine wichtige Rolle.
Beim Abzug der US-Truppen Ende 2011 stellte ein interner Pentagon-Bericht der neu aufgebauten irakischen Armee ein schlechtes Zeugnis aus. Von mangelnder Motivation und unzureichendem Training der Soldaten war die Rede. Die Ausbilder seien oftmals nicht vor Ort gewesen, hätten die Rekruten von außerhalb des Landes angewiesen, was uneffizient gewesen sei. Auch die militärische Ausrüstung wurde bemängelt. So sei die Luftwaffe zur Landesverteidigung nicht in der Lage und verfüge über zu wenig Flugzeuge und Kapazitäten. Dies zeigte sich nur allzu deutlich, als der IS im Irak vor einem Jahr Einzug hielt und sein Kalifat mit modernsten Waffen und hoch motivierten Kämpfern errichtete und verteidigte.
Seitdem sind unzählige Militärberater und Ausbilder aus aller Welt an Euphrat und Tigris geschickt worden: 5.000 aus den USA, Hunderte aus Australien, Kanada und Frankreich. Auch Deutschland entsandte 70 Militärausbilder. Nach dem Debakel in Ramadi stellt sich nun erneut die Frage nach der Effizienz der Experten. Qais jedenfalls, der schiitische Freiwillige der ersten Stunde, hat noch keinen von ihnen gesehen. "Aber nach Anbar, in diese Hölle, gehen die ohnehin nicht", meint er.