Vom Terror zum Chaos
14. April 2014Mit Wucht hat der Terror in Nigeria die Hauptstadt Abuja eingeholt. Bei einem Anschlag auf einen Busbahnhof der Millionenstadt im Berufsverkehr am Montagmorgen (14.04.2014) wurden mehr als 70 Menschen getötet, über 120 verletzt. Zunächst bekannte sich niemand zu der Tat. Nigerias Präsident Goodluck Jonathan beschuldigte allerdings die islamistische Gruppe Boko Haram, die seit mehreren Jahren vor allem den Nordosten von Afrikas bevölkerungsreichstem Land mit Terror überzieht. "Die Angelegenheit mit Boko Haram ist eine ziemlich hässliche Geschichte", sagte Jonathan wenige Stunden nach der Tat am Anschlagsort, "aber wir werden sie überwinden. Boko Haram ist ein vorübergehendes Problem".
Tatsächlich aber zeigt der verheerende Anschlag auf den Busbahnhof am Rande der Hauptstadt, wie ohnmächtig der nigerianische Staat gegenüber der unaufhaltsam wachsenden Gewalt ist. Allein in diesem Jahr kamen bei Anschlägen, die Boko Haram zugeschrieben wurden, 1500 Menschen ums Leben. Der Terror in Nigeria hat damit in mehrfacher Hinsicht neue Dimensionen erreicht. "Das Muster der Anschläge hat sich verändert", sagt der Sicherheitsexperte und ehemalige Major der nigerianischen Armee, Yahaya Shinku, der DW. So habe sich die Frequenz der Attacken erhöht und das betroffene Gebiet von den Hochburgen Boko Harams im Nordosten auf die Hauptstadt und weitere Teile Nigerias ausgeweitet.
Die dramatischste Veränderung laut Beobachtern ist jedoch, dass der Terror völlig wahllos geworden sei. "Es ist keinerlei ideologische Linie mehr bei der Auswahl der Terrorziele erkennbar", sagt Hildegard Berendt-Kigozi, die das Büro der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Abuja leitet. Lange hatten sich die Anschläge von Boko Haram hauptsächlich gegen Vertreter des nigerianischen Staates wie Militär, Polizei oder auch gegen Schulen gerichtet. Zentrale Forderung der Gruppe ist ein unabhängiger, an ihrer radikalen Vorstellung vom Islam ausgerichteter Staat in Nordnigeria. Zuletzt aber wurden mehrfach ganze Dörfer im Norden angegriffen und auch muslimische Bewohner willkürlich ermordet.
Spekulation über Motive
Auch bei dem Anschlag vom Montag auf Berufspendler in Abuja sei kein Motiv erkennbar, "außer Nigeria ganz allgemein destabilisieren zu wollen", sagt Berendt-Kigozi. "Jede Terrorgruppe mit ideologischen Ansprüchen würde sich mit solchen Anschlägen unglaubwürdig machen." Ziel sei offenbar nicht die Durchsetzung konkreter politischer oder religiöser Forderungen, sondern das ganze Land ins Chaos zu stürzen. Dafür spreche zudem, dass sich zu vielen der jüngsten, wahllosen Anschläge bislang niemand bekannt habe. Daher könne es auch keine Verhandlungen mit den Tätern geben.
Major Yahaya Shinku vermutet einen Zusammenhang zwischen dieser neuen Terrorstrategie und den im Februar 2015 anstehenden Präsidentschaftswahlen. "Man kann diese Anschläge nicht von der Tatsache trennen, dass wir auf die Wahlen 2015 zugehen", sagt Shinku. Es werde schwer für die Wahlkommission, in den vom Terror betroffenen Gebieten zu arbeiten. "Viele der Angestellten werden nicht bereit sein, ihr Leben aufs Spiel zu setzten, wenn die Wahlkommission und ihre Einrichtungen bedroht sind."
Darüber, warum Boko Haram diese neue Strategie wählt, oder wer sonst hinter dieser wahllosen Gewalt stecken könnte, gibt es bislang nur Spekulationen. Weder über die Ursachen noch über einen angemessenen Weg zur Bekämpfung des Terrors herrsche Klarheit in Nigeria, sagt KAS-Büroleiterin Berendt-Kigozi.
Polarisierung der Gesellschaft
Klar sichtbar seien dagegen die Auswirkungen auf die Gesellschaft. Die Bevölkerung würde mehr und mehr polarisiert, je nachdem zu welcher Gruppe man gehöre. In Nigeria leben je zur Hälfte Christen und Muslime. "Für die einen ist die Sache klar: 'Das sind alles die islamischen Extremisten, das ist alles Boko-Haram!'", so Berendt-Kigozi. Für andere sei das keineswegs so klar. Denn sie glaubten nicht, dass Islamisten ihre eigenen Glaubensbrüder töten würden. "Ich hoffe zwar, dass der Anschlag in Abjua jetzt die Nigerianer eint gegen den Terror, aber ich fürchte, dass sich die Gesellschaft stattdessen weiter polarisiert", sagt Berendt-Kigozi.
Die Strategie Jonathans, Boko Haram durch hartes Vorgehen des Militärs zu bekämpfen, hat bisher keinerlei Erfolg gebracht. "Man hat den Notstand ausgerufen, um die Leute zu schützen, aber die Lage wird jeden Tag schlimmer", klagt der nigerianische Abgeordnete Ahmad Zannah. Zannahs Heimat Borno ist einer von drei Bundesstaaten, über die Jonathan im Mai 2013 den Notstand verhängte, um dem Militär weitreichende Befugnisse im Kampf gegen die Terroristen zu gewähren. Doch das brutale Vorgehen der Soldaten, die dabei mutmaßlich auch viele Zivilisten töteten, habe "nichts gebracht", so Zannah. Wie er sind deshalb viele der Betroffenen gegen die von der Regierung geplante Verlängerung des Notstands.