AI kritisiert Gewalt in Nigeria
31. März 2014DW: In Ihrem Bericht über die Gewalt im Nordosten Nigerias beschuldigen Sie sowohl die Sicherheitskräfte als auch die islamistische Gruppe Boko Haram, Kriegsverbrechen zu begehen. Nach welchen Kriterien haben Sie die Gewalt dort als Kriegsverbrechen eingestuft?
Makmid Kamara: Die Kämpfe im Nordosten Nigerias haben die Schwelle zu einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt überschritten. Mit Blick auf das Ausmaß der Gewalt - sowohl der Angriffe von Boko Haram als auch der Reaktionen der nigerianischen Sicherheitskräfte - glauben wir, dass beide Konfliktparteien Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen haben könnten. Es ist Zeit für die internationale Gemeinschaft, diese Vorwürfe zu untersuchen. Unsere Kriterien waren die, die im Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs beschrieben sind.
Sie werfen den Sicherheitskräften vor, in Reaktion auf einen Angriff von Boko Haram auf eine Armee-Kaserne in Maiduguri am 14. März 2014 mehr als 600 Menschen getötet zu haben. Welche Beweise haben Sie dafür?
Unsere Informationen legen den Verdacht nahe, dass sehr viele Menschen getötet wurden, möglicherweise sogar mehr als die Zahl, die wir jetzt veröffentlicht haben. Wir haben Filmmaterial bekommen, das wir auch weitergegeben haben, und auch Fotos. Wir haben Aussagen von Augenzeugen, einigen Überlebenden sowie Anwohnern über das Anlegen von Massengräbern am Tag nach dem Angriff auf die Giwa-Kaserne. Wir haben außerdem eine Firma beauftragt, Satellitenbilder auszuwerten, um unter Berücksichtigung unserer Informationen die Stellen zu untersuchen, an denen die nigerianischen Sicherheitskräfte Massengräber angelegt haben sollen. Die Auswertung legt nahe, dass tatsächlich drei Gräber angelegt wurden - möglicherweise um dort Menschen zu begraben, die am 14. März getötet worden waren.
Haben Sie die nigerianischen Behörden mit Ihren Erkenntnissen konfrontiert? Gab es Reaktionen?
Wir haben den nigerianischen Behörden einen Brief geschrieben. Wir haben entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen, ohne eine Antwort abzuwarten. Denn wir glauben, dass diese Sache ein beispielloses Ausmaß erreicht hat. Wir hoffen, dass unser Gang an die Öffentlichkeit dazu beiträgt, die Exzesse der Sicherheitskräfte zu untersuchen und den zwischen die Fronten geratenen einfachen Bürgern eine Atempause zu verschaffen.
Sie rufen internationale Organisationen wie die Menschenrechtskommission der Afrikanischen Union und den UN-Menschenrechtsrat auf, die Vorgänge zu untersuchen. Heißt das, dass Sie nicht glauben, dass die nigerianischen Behörden dies tun?
Es gibt eine lange Geschichte des Versagens nigerianischer Behörden, wenn es darum geht, glaubwürdige, unparteiische und tiefgreifende Untersuchungen bei Vorwürfen zu Menschenrechtsverletzungen durchzuführen. Und wenn solche Untersuchungen doch geführt werden, dann bekommt niemand die Berichte zu sehen. Wir kennen außerdem die zahlreichen Untersuchungskommissionen, die verschiedene nigerianische Regierungen eingesetzt haben, und deren Empfehlungen nie umgesetzt wurden. Wir denken deshalb, dass es höchste Zeit ist, dass die nigerianischen Behörden mit internationalen Partnern zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass Vorwürfe zu schweren Menschenrechtsverletzungen unabhängig und unparteiisch untersucht werden.
Sie machen Boko Haram für mehr als die Hälfte der von Ihnen bisher allein in diesem Jahr gezählten 1500 Toten im Nordosten Nigerias verantwortlich. Wie sollen die Behörden mit dieser extremen Gewalt umgehen?
Die nigerianischen Behörden haben natürlich wie jeder andere Staat der Erde eine Verantwortung dafür, die staatliche Ordnung wiederherzustellen. Das muss aber innerhalb des nationalen und internationalen Rechts geschehen. Wir sind der Meinung, dass viele der von den nigerianischen Behörden ergriffenen Maßnahmen die Grenzen nationaler und internationaler Menschenrechtsstandards überschritten haben. Diese Reaktionen mit harter Hand haben die Situation nicht entschärft. Im Gegenteil, sie haben die Aktivitäten der Gruppe [Boko Haram] weiter angeheizt. Die ungesetzliche Inhaftierung Hunderter, der Tod von mehr als tausend Menschen in militärischem Gewahrsam und die außergesetzlichen Tötungen von Hunderten, die verdächtigt wurden, zu Boko Haram zu gehören - all dies ist kein Weg, um die Gewalt einzudämmen.
Makmid Kamara ist Rechercheur für Nigeria bei Amnesty International in London.
Das Interivew führte Mohammad Awal.