Verfassungsgericht: Regierung muss Wahlrechtsreform ändern
30. Juli 2024Schon lange ist klar: Der Bundestag ist viel zu groß. Er hat zu viele Abgeordnete. Die Bundesregierung wollte das ändern. Mit der Mehrheit der Regierungsparteien beschloss der Bundestag im vergangenen Jahr eine Reform des Wahlrechts. Ziel der Reform war es, das deutsche Parlament schrumpfen zu lassen. Derzeit sitzen dort 733 Bundestagsabgeordnete. Mit der Reform sollten es maximal 630 sein. Gegen das Gesetz der Regierung hatten die CDU/CSU-Fraktion, die Partei Die Linke und andere vor dem Verfassungsgericht geklagt. Die konservative Schwesterpartei der CDU aus Bayern, die CSU, und die u.a. aus der SED-Nachfolgepartei PDS hervorgegangene "Die Linke" sind eher kleine Parteien. Sie fürchteten um ihre Sitze im Parlament.
Verfassungsgericht billigt im Kern den Reformvorschlag
Das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, billigt im Kern die Wahlrechtsreform der Regierungsparteien SPD, Grüne, FDP. Viele Regierungen waren zuvor daran gescheitert. Auch, weil das deutsche Wahlsystem so kompliziert ist. Dass der Bundestag kleiner wird, ist jetzt also genehmigt.
Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke, Redakteur der Blätter für deutsche und Internationale Politik, spricht gegenüber der DW von einem "salomonischen" Urteil des Bundesverfassungsgerichts. "Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz gerettet, hat es in gewisser Weise wasserfest gemacht."
Neu: Überhangmandate entfallen
In Deutschland wird nach dem System der personalisierten Verhältniswahl abgestimmt. Was bedeutet das? Jeder Wähler kann auf dem Wahlzettel zwei Kreuze machen. Eines für eine bestimmte Person, den Vertreter des Wahlkreises. Da galt bislang: Wer die meisten Stimmen erhält, kriegt sicher ein Mandat im Bundestag. Mit der zweiten Stimme wird ein Listenkandidat der Partei gewählt. Die Zweitstimme ist entscheidend und bestimmt über die relative Stärke der Parteien untereinander.
Gewinnt eine Partei mehr Direktmandate, als ihr aufgrund der Zweitstimmenergebnisse zustehen, dürfen zusätzliche Abgeordnete ins Parlament rein, man nennt das im Deutschen "Überhangmandat" oder "Ausgleichsmandat". Bei der letzten Bundestagswahl 2021 waren das insgesamt 138 Sitze extra. Und das ist auch der Hauptgrund dafür, dass das Parlament immer größer und größer wurde. Die Überhangmandate und Ausgleichsmandate werden in der Zukunft entfallen. Das Verfassungsgericht hat das gebilligt.
Die Reform könnte zur Folge haben, dass in einem Wahlkreis direkt gewählte Abgeordnete, die mit der Erststimme gewählt wurden, keinen Sitz im Bundestag erhalten. Denn die Wahlkreisgewinner erhalten ihr Mandat nur dann, wenn auch das Ergebnis der Zweitstimme für ihre Partei entsprechend hoch ist. Politikwissenschaftler von Lucke spricht im DW-Interview von einem "Systemwechsel": "Die Erststimme verliert insgesamt betrachtet an Bedeutung. Es fallen diejenigen Erstimmengewinner heraus, die die schlechtesten Ergebnisse haben."
Ausnahmen von der Fünf-Prozent-Hürde müssen bleiben
In Deutschland gilt für Bundestags- und Landtagswahlen generell die sogenannte Fünf-Prozent-Klausel. Die Hürde soll dafür sorgen, dass nicht zu viele Kleinst- und Splitterparteien in die Parlamente einziehen. Es gibt aber eine Ausnahme: Holt eine Partei mindestens drei Direktmandate, aber keine 5 Prozent Zweitstimmen, darf sie dennoch als Fraktion in den Bundestag einziehen, entsprechend ihrer Zweitstimmen. Die Regierung wollte diese Ausnahmeregelung ganz streichen. Das Verfassungsgericht hat das als nicht rechtens erklärt: "Die Fünf-Prozent-Klausel ist in ihrer geltenden Form mit dem Grundgesetz nicht vereinbar", heißt es im Urteil. Die Klausel könne nämlich dazu führen, dass zu viele Stimmen gar nicht gewertet würden.
Freude bei der Linken und der CSU
Freuen über diesen Einspruch des Verfassungsgerichts können sich vor allem zwei Parteien: Die Linke und die bayerische Partei CSU, die gemeinsam mit der CDU eine Fraktionsgemeinschaft im Bundestag bildet. Die Regionalpartei CSU ergattert in Bayern fast immer alle Direktmandate, kommt aber bundesweit gerechnet nur knapp über fünf Prozent (man kann sie de facto auch nur in Bayern wählen). Die Linke erreichte bei der letzten Bundestagswahl nur 4,9 Prozent, konnte aber dennoch mit 39 Abgeordneten in den Bundestag einziehen, weil sie drei Direktmandate erreichte.
Gregor Gysi von der Linken war einer, der bei den letzten Wahlen ein Direktmandat für seine Partei erhielt. Gysi stammt aus der DDR, war Teil der sozialistischen Führungspartei SED. In der Zeit der politischen Wende 1989/1990 half er mit, die Einheitspartei zu reformieren und in die Demokratie zu überführen. Später wurde er ein Mitbegründer der heutigen Partei "Die Linke".
Im Gespräch mit der DW spricht der Jurist von einem "Erfolg für die Linke und die Union" und einem "Misserfolg" der Regierungsparteien. Er erwartet noch bis September eine Verabschiedung eines neuen Wahlrechts. Er wünsche sich zwar, dass die Fünf-Prozent-Hürde gesenkt werde, glaube aber nicht daran: "Da die Mehrheit des Bundestages aber in die Fünf-Prozent-Hürde schwer verliebt ist, machen sie dann wahrscheinlich lieber die Drei-Direktmandatsregelung."
Der deutsche Bundestag - das größte demokratisch gewählte Parlament
Der deutsche Bundestag ist das größte frei gewählte nationale Parlament weltweit! 733 Abgeordnete hat der Bundestag derzeit. In der 15. Legislaturperiode - von 2002 bis 2005 - waren es 603 Abgeordnete. In den darauffolgenden vier Jahren schon 614. Nur der nicht demokratisch gewählte Nationale Volkskongress in Peking ist noch größer. Dort sitzen rund 3000 Delegierte. Sie repräsentieren jedoch rund 1,4 Milliarden Menschen. Der Bundesrechnungshof hat ermittelt, dass der Deutsche Bundestag mit seinen Abgeordneten, Mitarbeitern und Büros den Steuerzahler pro Jahr rund ein Milliarde Euro kostet.
Was wird nun aus der Wahlrechtsreform?
Die nächste Bundestagswahl steht voraussichtlich in etwas mehr als einem Jahr an. Nicht sehr viel Zeit also für die Regierung, die Wahlrechtsreform verfassungskonform anzupassen. Die Regierung könnte zum Beispiel die Fünf-Prozent-Klausel weiter absenken. Ansonsten würde die bisherige Regel mit der Möglichkeit der Direktmandate weiterhin gelten.
Panne beim Verfassungsgericht
Die Regierungsparteien sind alles in allem mit dem Urteil des Verfassungsgerichtes zufrieden. Auch Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke lobt die Reform der Regierung im Grundsatz: "Der Ampel ist - aufgrund der Korrektur durch das Bundesverfassungsgericht - mit diesem Gesetz etwas gelungen, was Jahrzehnte lang ein nicht erfüllter Auftrag gewesen ist."
Die Union sieht das Urteil der Verfassungsrichter kritischer: Sie kündigte an, die Wahlrechtsreform wieder zurücknehmen, sollte sie die nächste Bundesregierung stellen.
Überschattet wurde die Urteilsverkündung des Verfassungsgerichtes durch eine Panne oder einen Leak. In der Nacht vor der eigentlichen Verkündung war der Text des Verfassungsgerichtes öffentlich geworden. Das Gericht, so Vizepräsidentin Doris König, bedauere, dass es "eventuell aufgrund eines technischen Fehlers dazu kam".