Untergräbt westliche Doppelmoral die Weltordnung?
21. September 2024"Egal, wohin ich gehe, überall sehe ich mich mit dem Vorwurf der Doppelmoral konfrontiert", so der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell im Mai an der Universität Oxford. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte bei der Münchener Sicherheitskonferenz im vergangenen Jahr: "Ich bin erschüttert, wie sehr wir das Vertrauen des Globalen Südens verloren haben." Und Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock musste sich, nachdem sie Chinas Menschenrechtslage kritisiert hatte, von ihrem damaligen chinesischen Amtskollegen Qin Gang anhören: "Was China am wenigsten braucht, ist ein Lehrmeister aus dem Westen."
Vorwürfe, der Westen halte eine weltweit gültige, regelbasierte Ordnung nur dann hoch, wenn sie ihm passe, kommen seit langem von den Ländern des Globalen Südens. In letzter Zeit häufen sie sich aber, konkret seit Beginn des Ukraine-Kriegs und des Kriegs zwischen Israel und der Hamas.
Indien: Europas Probleme sind nicht die Probleme der ganzen Welt
Vor allem Russlands Angriff auf die Ukraine haben westliche Staatschefs zu einem Kampf um die weltpolitische Ordnung stilisiert: US-Präsident Joe Biden hat gesagt, ein Sieg Russlands "könnte das Ende der regelbasierten internationalen Ordnung bedeuten"; die Verteidigung der Ukraine sei die Verteidigung der Prinzipien dieser Ordnung.
Doch Versuche des Westens, eigentlich ihm nahestehende demokratische Länder des Globalen Südens bei den Russland-Sanktionen auf seine Seite zu ziehen, schlugen oft fehl. So war es bei Indien, Brasilien oder Südafrika. Sie alle treiben weiter Handel mit Russland, zum Teil mehr als vor dem Krieg, auch wenn sie das nicht als Zustimmung zum russischen Überfall auf die Ukraine verstanden wissen wollen.
Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar hat mit Blick auf den Ukraine-Krieg gesagt, die Europäer glaubten offenbar, "Europas Probleme seien die Probleme der ganzen Welt, aber die Probleme der Welt sind nicht Europas Probleme". Und der indonesische Verteidigungsminister Prabowo Subianto Djojohadikusumo meinte, wenn es darum gehe, für Frieden einzutreten, hätten die westlichen Regierungen offenbar "die einen Grundsätze für die Ukraine und andere Grundsätze für die Palästinenser".
Regeln für alle oder "Vielfalt der Zivilisationen"?
Sophie Eisentraut, Leiterin der Forschungsabteilung der Münchener Sicherheitskonferenz (MSC), beschreibt in ihrer Arbeit "Standard Deviation – Views on Western Double Standards and the Value of International Rules" ein wachsendes Problem für den Westen: In einer Welt zunehmender geopolitischer Rivalität leidet das westliche Modell einer regelbasierten Ordnung zunehmend unter Glaubwürdigkeitsverlust: Und zwar ausgerechnet zu einer Zeit, da der Westen an relativer Macht verliert.
Den Gegenentwurf bietet zum Beispiel China. Statt von global gültigen Regeln spricht China von "absoluter Souveränität", das heißt der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten - und vom Respekt einer "Vielfalt der Zivilisationen".
China wirbt weltweit für diesen Gegenentwurf, so wie Russland. Präsident Wladimir Putin sagte bei einem Gipfeltreffen mit afrikanischen Regierungen im Sommer vergangenen Jahres, rund anderthalb Jahre nach Kriegsbeginn: "Eine wahrhaft multipolare Weltordnung ist im Entstehen, und die Ära, in der ein Land oder eine Gruppe von Ländern herrschte, kommt an ihr Ende." Er rannte damit bei vielen afrikanischen Regierungen offene Türen ein.
Der Eindruck, die bestehende, vom Westen geprägte Ordnung internationaler Regeln und Institutionen nütze vor allem dem Westen selbst und die westlichen Staaten hielten sich nicht an ihre eigenen Maßstäbe, ist weit verbreitet. Das beweist auch eine Umfrage der MSC unter neun bevölkerungsreichen Ländern des Globalen Südens. Gleichzeitig, das zeigt die Umfrage auch, glauben viele Menschen in diesem Teil der Welt durchaus an den Wert der bestehenden internationalen Regeln.
Kritik ist oft berechtigt
Sophie Eisentraut sagt es klar und deutlich: Die Kritik an westlicher Doppelmoral trifft oftmals zu. So weisen Länder des Globalen Südens zum Beispiel darauf hin, die USA und andere westliche Staaten pochten auf das Prinzip der territorialen Integrität der Ukraine, hätten sich aber bei der US-geführten Invasion im Irak 2003 nicht um dieses Prinzip geschert. Die Menschenrechte hätten westliche Staaten bei den illegalen Verhaftungen im Rahmen des Kampfes gegen den Terror missachtet. Und die Europäer hätten mit nordafrikanischen Autokraten gemeinsame Sache gemacht, um Migration nach Europa zu verhindern.
Allerdings, gibt Eisentraut zu bedenken, benutzten die Kritiker aus Ländern wie China und Russland ihre Vorwürfe oft, um eigene Verstöße zu relativieren. Oder sie rechtfertigten damit einen außenpolitischen Ansatz, der überhaupt keinen moralischen Prinzipien mehr folgt und nur die eigenen, enggefassten Interessen im Auge hat. Als Folge wird weltweit der Wert universeller Regeln an sich in Zweifel gezogen.
Eine Welt ganz ohne Regeln wäre ein Alptraum
Die westlichen Staaten stehen, so Eisentraut, vor einem Dilemma: Sie befürchten, dass es ihren globalen Rivalen in die Hände spielt, wenn sie selbstkritisch mit eigener Inkonsequenz umgehen. Ignorieren sie dagegen die Kritik, werden sie zurecht für selbstgerecht gehalten und fördern, wie es Präsident Macron einmal bei der MSC ausdrückte, "einen neuen Zynismus, der die globale Ordnung niederreißt".
Die Autorin empfiehlt als Antwort drei Dinge: Die westlichen Staaten sollten solche Widersprüche zwischen Ansprüchen und eigenem Handeln natürlich möglichst verringern. Sie sollten zweitens ehrlicher darüber reden, wo "Konsequenz ihre Grenze hat". Dazu gehöre auch, nicht länger die Welt schwarzweiß in regelachtende und regelbrechende Staaten einzuteilen, denn es gebe viele Grautöne. Zur Kommunikation gehöre auch der Hinweis, dass autokratische Systeme eine offene Debatte über eigene Widersprüche und damit eine mögliche Selbstkorrektur gar nicht kennen.
Schließlich solle der Westen, meint Eisentraut, dem entgegentreten, was die Kritik an westlicher Doppelmoral oft impliziert, ohne es offen zu sagen: nämlich "dass eine von doppelten Standards geprägte Ordnung nicht besser sei als eine Ordnung ohne jeden Standard". Nicht nur die Länder des Westens, auch sehr viele des Globalen Südens hätten eine Menge zu verlieren in einer Welt ganz ohne allgemein akzeptierte Regeln.