Viktor Orban und die Corona-"Todeskampagne"
8. April 2021Es begann mit einem gefälschten Zitat: Anfang Januar unterstellten regierungsnahe ungarische Medien dem bekannten ungarischen Politologen Péter Krekó, er rufe die Opposition dazu auf, Impfverweigerung zu propagieren, damit möglichst viele Menschen an COVID-19 stürben. Die Schuld für diese Opfer der Corona-Pandemie könne die Opposition dann auf den Premier Viktor Orban schieben und so für seine Abwahl sorgen, behaupteten die Medien weiter. Auch Orban selbst äußerte sich zu der vermeintlichen Aussage Krekós in einem Interview: "Bösartigkeit hat keine Grenzen", sagte Ungarns Regierungschef.
Dabei hatte Krekó nichts dergleichen geäußert. Der Politologe hatte dem Brüsseler Magazin "Politico" Ende Dezember vielmehr gesagt, es könne für Orban "politische Folgen" haben, wenn er und seine Regierung zu stark für die in Ungarn nicht sehr angesehenen Impfstoffe Sputnik V und Sinopharm aus Russland beziehungsweise China werben würden - denn das könne die in Ungarn ohnehin nicht sehr große Impfbereitschaft weiter untergraben.
Obwohl Krekós Aussage unmissverständlich ist, startete der rechtsradikale, rassistische Publizist Zsolt Bayer, ein enger Freund Orbans und Mitbegründer der ungarischen Regierungspartei Fidesz, eine Online-Petition gegen den Politologen und seine angebliche "Todeskampagne". Der Politologe und seine Familie erhielten seitdem Morddrohungen. In Orban-treuen Medien erschienen hunderte verleumderische Artikel über Krekó.
Am Mittwoch wiederholte ein führender Fidesz-Politiker während einer Plenumsdebatte im Budapester Parlament noch einmal die Vorwürfe gegen den Politologen - obwohl inzwischen bereits zwei Gerichtsentscheidungen vorliegen, die die Behauptungen über Krekó als falsch einstufen. "Das ist sehr verstörend", sagte Krekó der DW. "Inzwischen bin ich fast zu einer mythischen bösen Figur stilisiert worden."
Erfundene Anschuldigungen
Der Angriff auf den ungarischen Politologen ist nicht nur beispiellos. Er markiert auch den Beginn einer neuen politischen Großoffensive gegen die ungarische Opposition: Seit Jahresbeginn beschuldigen Viktor Orban, seine Regierung, seine Partei und regierungsnahe Medien die Oppositionsparteien unermüdlich, eine "Todeskampagne" gegen Corona-Schutzimpfungen zu führen.
So wie Krekós vermeintliche Aussage existiert auch diese Kampagne nicht. Die sechs wichtigsten Oppositionsparteien, die sich Ende vergangenen Jahres zu einer Wahlkoalition zusammenschlossen, fordern die Bürgerinnen und Bürger immer wieder dazu auf, sich impfen zu lassen. Sie kritisieren jedoch die Verwendung von chinesischem und russischem Impfstoff, bevor dieser von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) zugelassen sei.
Impfstoff-Zulassungen trotz Expertenwarnung
Sputnik V und Sinopharm hatten im Januar in Ungarn eine Zulassung von der zuständigen Behörde, dem Landesarzneimittelinstitut (OGYÉI), erhalten - wobei im Fall von Sputnik V einige der konsultierten Sachverständige von einer Genehmigung abrieten und empfahlen, auf eine EMA-Expertise zu warten. Die Behörde verwarf die Einwände jedoch.
Ungarn ist damit bisher das einzige EU-Land, das diese beiden Impfstoffe verwendet. Das EU-Recht gestattet zwar eine nationale Verwendung von noch nicht genehmigten Impfstoffen in Notsituationen. Doch die meisten EU-Staaten wollen auf EMA-Entscheidungen warten und keine Alleingänge unternehmen.
Regierungskrisen wegen Sputnik V
Welche politischen Krisen das Thema Corona-Impfung auslösen kann, zeigen die Beispiele Slowakei und Tschechien: In der Slowakei trat der Premier Igor Matovič vergangene Woche nach einem Koalitionsstreit um die Verwendung von Sputnik V zurück. Am Dienstag lehnte das Slowakische Staatliche Institut für Arzneimittelkontrolle (SUKL) eine Zulassung von Sputnik V ab. In Tschechien wurde am Mittwoch der Gesundheitsminister entlassen, weil er sich gegen die Verwendung von Sputnik V vor einer EMA-Zulassung ausgesprochen hatte.
Obwohl ungarische Oppositionspolitiker lediglich einen Standpunkt äußern, wie ihn die meisten EU-Länder vertreten, und keine generelle Anti-Impfkampagne betreiben, sind die Angriffe gegen sie in regierungsnahen ungarischen Medien wüst. Sie werden nahezu täglich pauschal als Vaterlandsverräter oder Feinde der Nation dargestellt, die "mit dem Tod und dem Schmerz schachern", wie die inoffizielle Regierungszeitung "Magyar Nemzet" (deutsch: Ungarische Nation) vor einigen Tagen titelte.
Die "Sünde" der Opposition
Orban selbst drückt sich weniger aggressiv aus - behauptet aber inhaltlich dasselbe. In seinem jüngsten wöchentlichen Freitags-Interview bezeichnete er die angebliche Kampagne der Opposition gegen das Impfen als "Sünde" und fragte rhetorisch, ob die Oppositionspolitiker es mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten, wenn Menschen stürben, die auf sie gehört und sich nicht hätten impfen lassen.
"Derartige Regierungskampagnen laufen schon seit Jahren immer stärker", sagt Péter Krekó. "Ungarn ist damit nicht allein in Europa und der Welt. Das Besondere ist aber, dass der ungarische Staatsapparat immer mehr politisiert wird, um die Botschaften der Regierung zu verbreiten. Das gibt es in diesem Ausmaß nirgendwo sonst."
Verbotene Berichterstattung
Die Gründe für die aktuelle Kampagne liegen auf der Hand: Orbans Wiederwahl im kommenden Frühjahr ist laut derzeitigen Umfragen ernsthaft in Gefahr. Unter einem erheblichen Teil der Menschen in Ungarn hat sich Orban-Müdigkeit breitgemacht, viele sind unzufrieden mit Selbstherrlichkeit und Korruptionsaffären im Umfeld des Premiers. Zudem verlief das Corona-Management der ungarischen Regierung in den vergangenen Monaten im Zickzack-Kurs zwischen Öffnung und Lockdown.
Aktuell verzeichnet das Land eine der höchsten Corona-Todesraten Europas. Die Lage in vielen Krankenhäusern ist allem Anschein nach dramatisch - doch verifizierbare Informationen gibt es dazu nicht, weil die Orban-Regierung die unabhängige journalistische Berichterstattung aus Kliniken und Impfzentren verboten hat. Sowohl unabhängige Medien als auch die Ungarische Ärztekammer (MOK) haben dagegen protestiert - vergeblich.
"Kein vernünftiger Diskurs möglich"
Zugleich sind jedoch dank einer forcierten Impfkampagne der Regierung bereits mehr als ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung erstgeimpft. Orban braucht diesen Erfolg dringend für einen ökonomischen Neustart im Land. Wegen der bisherigen langen Pandemie-Beschränkungen droht Ungarn eine Wirtschaftskrise, deren Ausmaß noch nicht absehbar ist.
Bei der Suche nach Sündenbocken dafür haben sich Fidesz-Politiker und regierungsnahe Medien unterdessen einen weiteren bekannten Politologen gegriffen: Attila Tibor Nagy. Eine Aussage von ihm zu einer möglichen Wahlkampfstrategie der Opposition wurde so verdreht, dass er nun ebenfalls als Urheber einer "Todeskampagne" dasteht. "Ein Jahr vor der Parlamentswahl ist die Stimmung immer aufgeheizter", sagte Nagy der DW. "Ein vernünftiger politischer Diskurs ist in Ungarn nicht mehr möglich. Das erlebe ich jetzt gerade an meiner Person."