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Ukraine schärft deutschen Blick auf Rüstung und Verteidigung

26. Dezember 2023

Angefangen hatte es mit 5000 Soldatenhelmen für die von Russland überfallene Ukraine. Nach fast zwei Jahren Krieg liefert die deutsche Rüstungsindustrie neueste Hightech. 2024 dürfte es so weitergehen.

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Ein orangefarbener Schwertransporter aus den Niederlanden transportiert eine Panzerhaubitze über eine deutsche Autobahn
Alltag in Deutschland: eine niederländische Panzerhaubitze 2000 auf dem Weg in die UkraineBild: Thomas Frey/dpa/picture alliance

Die Menschen in Deutschland müssen sich auch im neuen Jahr an eine weitere Militarisierung des Alltags gewöhnen. Fragen von Krieg und Verteidigung werden immer mehr politische Entscheidungen bestimmen. Davon sind Sicherheitsexperten im Land überzeugt. Grund sei die realistisch gewordene Gefahr eines russischen Angriffs auf NATO-Gebiet seit dem Beginn von Russlands Großinvasion in der Ukraine vor zwei Jahren.

Das fange beim Straßenbau an, ein Beispiel von vielen, sagt der Politikwissenschaftler Christian Mölling im Gespräch mit der DW: "Wir müssen wahrscheinlich Straßen erneuern, wir müssen Brücken erneuern." Viele Straßen und Brücken in Deutschland seien nicht für die Belastung durch Panzer und anderes Kriegsgerät konzipiert worden.

Mölling leitet das Zentrum für Sicherheit und Verteidigung in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er hatte zuletzt das politische Berlin mit einer Analyse wachgerüttelt, wonach die NATO im schlechtesten Fall fünf Jahre Zeit zum Aufrüsten hätte. Andernfalls sei die Abschreckung durch eine militärische Überlegenheit gegenüber Russland nicht mehr gegeben.

Epochenwechsel durch Russlands Angriffskrieg

Deutschland erlebt einen rasanten Epochenwechsel: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vertrauten die Deutschen darauf, dass mit dem Ende des Kalten Krieges auch die Gefahr eines heißen Krieges ausgeschlossen sei. Doch das ist vorbei. Politische Diskussionen sind im Alltag der Deutschen zurück, die es drei Jahrzehnte lang nicht mehr gab.

"Bei der Gesamtverteidigung geht es ja insbesondere darum, zivile Infrastruktur und auch die Gesellschaft in ihrem normalen Dasein so zu stärken, dass sie einen Kriegsfall auch aushalten können", erklärt Mölling. Damit würde die Planung einer neuen Straßenbrücke in einer Gemeindeverwaltung möglicherweise militärisch relevant. Nämlich dann, wenn diese Brücke im Verteidigungsfall eine strategische Rolle spielen könnte.

Mölling sieht darin aber auch eine Chance: Deutschland müsse, um die Verteidigungsfähigkeit des Landes wieder herzustellen, "bestimmte Vorschriften für eine gewisse Zeit lang aussetzen. Wir haben das mit dem Papier beschrieben als: Investitionen rauf, Vorschriften runter."

Zeitenwende: die Deutschen tun sich schwer

Dabei tun sich die Menschen in Deutschland mit den neuen Realitäten schwer. Vor fast zwei Jahren hatte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz Ende Februar 2022 mit einer historischen Rede eine "Zeitenwende" im deutschen Parlament, dem Bundestag, erklärt. Mit dem Wort wollte Scholz klar machen, dass das Militärische und die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands wieder eine Priorität habe, wie noch vor dem Fall der Berliner Mauer.

Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik: Portraitfoto, er lehnt an einer Wand
Für Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik hat die Zeitenwende gerade erst begonnenBild: DGAP

Die Mehrheit der deutschen Sicherheitsexpertinnen und Verteidigungsfachleute wie auch DGAP-Analyst Mölling sagen, die Ukraine verteidige die Freiheit ganz Europas. Mehr noch: Verliere die Ukraine gegen Russland, werde der russische Präsident Putin weiter Krieg führen und schließlich auch die NATO angreifen.

Doch gefragt, wo Deutschland sparen solle, wenn bei knappen Kassen das Geld nicht mehr reicht, verwiesen zuletzt im ARD-Deutschlandtrend 54 Prozent der Befragten in Deutschland auf die Ukraine-Hilfen. In einer anderen Umfrage des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) erklärten dagegen gut 70 Prozent, der Ukraine sollten weiter Waffen oder sogar noch mehr Rüstungsgüter geliefert werden.

Diesen Widerspruch in der Bevölkerung sieht DGAP-Analyst Christian Mölling auch in der deutschen Politik. "Viele, auch in Deutschland, haben nicht verstanden, dass man bei Rüstung nicht auf den Knopf drücken kann und dann purzeln hinten am nächsten Tag Panzer heraus", so der Politikwissenschaftler im DW-Interview. "Das dauert einfach unheimlich lange, bis solche Produktionskapazitäten aufgebaut sind. Was man der Bundesregierung, aber auch allen Regierungen in Europa vorwerfen kann, ist, dass sie immer noch nicht die Zeichen der Zeit erkannt und angefangen haben, deutlich mehr zu produzieren", sagt Mölling. Und zwar "nicht, weil die Ukraine es braucht, sondern weil wir es auch brauchen."

Vorbereiten auf einen neuen US-Präsidenten Trump 

Das gelte umso mehr, sollte Donald Trump als US-Präsident ein Comeback gelingen. Trump hatte die Zukunft der NATO in Frage gestellt. Darauf "müssen wir uns jetzt vorbereiten", sagt im DW-Interview der Leiter des Instituts für Weltwirtschaft (ifw), Moritz Schularick - und eben nicht erst, wenn es soweit sei. Das Forschungsinstitut aus Kiel gibt den "Ukraine Support Tracker" heraus, eine Übersicht über die internationalen Militär- und Finanzhilfen für die Ukraine. Zuletzt hatte das ifw diese Tabelle aktualisiert: Deutschland ist mittlerweile nach den USA der zweitwichtigste Rüstungslieferant für die Ukraine.

Doch noch immer sei die deutsche Rüstungsproduktion nicht signifikant gestiegen, kritisiert DGAP-Analyst Christian Mölling: "Wir stopfen zurzeit nur Löcher. Wir fangen nicht an, neue Produktionskapazitäten aufzubauen, die uns befähigen würden rechtzeitig fertig zu sein mit Blick auf die Deadlines, die wir in unserem Papier genannt haben."