Kiew: Schwerste Luftangriffe auf Ukraine seit Kriegsbeginn
29. Dezember 2023Russland hat nach Angaben aus Kiew die schwersten Luftangriffe seit Kriegsbeginn auf die Ukraine ausgeführt. Insgesamt seien in mehreren Städten mindestens 30 Menschen getötet und mehr als 140 verletzt worden, teilte der ukrainische Generalstaatsanwalt Andriy Kostin mit. Oberbefehlshaber Waleryj Saluschnyj sprach von 122 Raketen und Marschflugkörpern sowie von 36 Drohnen, die der Feind abgefeuert habe. Rund 70 Prozent davon habe die Flugabwehr zerstören können.
Die Attacke erfolgte demnach in mehreren Wellen aus verschiedenen Richtungen und unter Einsatz strategischer Bomber. Luftwaffensprecher Jurij Ihnat sagte im Fernsehen, Russland habe neben Drohnen iranischer Bauart auch Marschflugkörper sowie Hyperschall- und ballistische Raketen eingesetzt.
Kiew, Lwiw, Charkiw, Dnipro, Odessa ...
Landesweit hatte es Luftalarm gegeben. Berichte über Einschläge kamen unter anderem aus der Hauptstadt Kiew, aber auch aus Lwiw im Westen, Charkiw im Nordosten, Dnipro im zentralen Osten sowie - weiter südlich - aus Saporischschja und der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer. Allein in Dnipro gab es nach Angaben der dortigen Militärverwaltung mindestens fünf zivile Todesopfer. Wie das Energieministerium mitteilte, fiel in vier Regionen im Norden und im Süden der Ukraine der Strom aus.
Präsident Wolodymyr Selenskyj schrieb auf Telegram, es habe erhebliche Schäden im zivilen Bereich gegeben. So seien etwa eine Entbindungsstation, Bildungseinrichtungen, ein Einkaufszentrum und viele private Wohnhäuser getroffen worden. Selenskyj erklärte, die Ukraine werde darauf antworten. Seine Aussagen unterlegte er mit einem Video, das ein völlig zerstörtes Einkaufszentrum zeigen soll.
Polen: Russische Rakete durchflog Luftraum
Unterdessen wurde in Warschau bekannt, das aller Wahrscheinlichkeit nach eine russische Rakete am Freitagmorgen auch Polens Luftraum durchflogen hat. "Alles deutet darauf hin, dass eine russische Rakete in den polnischen Luftraum eingedrungen ist", sagte Generalstabschef Wieslaw Kukula vor Journalisten in Warschau. Die Rakete sei mit Hilfe eines Radars gesichtet worden und habe den polnischen Luftraum gleich wieder in Richtung Ukraine verlassen. Den weiteren Angaben zufolge befand sie sich etwa drei Minuten lang im polnischen Luftraum und überflog dabei 40 Kilometer.
Wie Kukula weiter mitteilte, waren polnische Kampfjets angewiesen worden, die Rakete abzufangen und "falls nötig abzuschießen". Dies sei aber wegen der kurzen Zeit und der Art und Weise, wie die Rakete flog, nicht möglich gewesen. Sicherheitshalber würden nun Soldaten im Verlauf der Flugbahn am Boden noch nach eventuellen Trümmern suchen.
Washington bietet technische Hilfe an
Der polnische Regierungschef Donald Tusk hielt wegen des Vorfalls ein Treffen mit Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz, dem Generalstab der Armee sowie den Geheimdienstchefs ab. Polens Präsident Andrzej Duda berief eine Sitzung des Büros für Nationale Sicherheit ein. Er informierte auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Dieser betonte, die Allianz stehe zu seinem Mitgliedsstaat Polen und bleibe wachsam.
Aus dem Weißen Haus hieß es, der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan habe mit seinem polnischen Amtskollegen Jacek Siewiera gesprochen und technische Hilfe angeboten. US-Präsident Joe Biden verfolge die Angelegenheit genau.
Selenskyj: "Terror muss immer scheitern"
In seiner Videoansprache hatte der ukrainische Staatschef zuvor die Weltgemeinschaft für 2024 zum gemeinsamen Kampf gegen die russische Aggression aufgerufen. "Terror muss immer scheitern. Und alle von uns in der freien Welt müssen das zusammen sicherstellen", sagte Selenskyj.
Der Stabschef im Präsidialamt, Andrij Jermak, bat die westlichen Verbündeten erneut um weitere Militärhilfen. "Wir tun alles, um unseren Luftschutzschild zu stärken. Aber die Welt muss einsehen, dass wir mehr Unterstützung und Kraft brauchen, um diesen Terror zu stoppen", erklärte Jermak ebenfalls auf Telegram.
Selenskyj besucht Frontstadt Awdijiwka
Der ukrainische Präsident hat die halb von russischen Truppen eingeschlossene Frontstadt Awdijiwka im Gebiet Donezk besucht. "Awdijiwka - unsere Positionen und unsere Jungs", sagte Selenskyj in einer in sozialen Netzwerken veröffentlichten Videobotschaft. Dabei stand der Staatschef an dem mit ukrainischen Fahnen verzierten Ortseingang der Industriestadt. Selenskyj zeichnete mehrere Soldaten mit Orden aus und überbrachte seine Glückwünsche zu Weihnachten und zum neuen Jahr.
Anfang Oktober hat die russische Armee eine neue Offensive zur Eroberung von Awdijiwka begonnen. Die stark zerstörte Stadt ist inzwischen nur noch über eine Straße durch einen schmalen Korridor von etwa sieben Kilometer Breite erreichbar.
Borrell spricht von feigen russischen Angriffen
EU-Chefdiplomat Josep Borrell hat die jüngsten "barbarischen" Luftangriffe Russlands auf ukrainische Städte verurteilt. Es sei ein "weiterer feiger und wahlloser Angriff auf Schulen, eine Metrostation und ein Krankenhaus", schrieb Borrell auf der Plattform X. Er habe mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba gesprochen. "Der Kampf der Ukraine für Freiheit gegen Tyrannei ist ein gemeinsamer Kampf." Die EU bleibe verpflichtet, 2024 zusätzliche militärische Ausrüstung bereitzustellen, um die Ukraine beim Widerstand gegen die russische Invasion zu unterstützen, so Borrell. "Die EU steht an der Seite der Ukraine, so lange es dauert."
Die USA hatten am Mittwoch ihre vorerst letzte Militärhilfe für Kiew im Umfang von 250 Millionen Dollar (gut 226 Millionen Euro) freigegeben. Eine Einigung auf neue Hilfen ab dem kommenden Jahr war zuletzt am Widerstand der oppositionellen Republikaner im US-Kongress gescheitert. Russland hatte im Februar 2022 den großflächigen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Regelmäßig beschießt das russische Militär dabei auch zivile Einrichtungen hinter der Front, um die Widerstandskraft der Ukrainer zu brechen.
jj/wa/sti/nob (dpa, afp, rtr, ap)