Ukraine als Zäsur
3. Mai 2014In Energiefragen lassen sich die Nationalstaaten in Europa ungern ins Geschäft funken. Als Deutschland nach der Fukushima-Katastrophe den schnellen Ausstieg aus der Kernkraft beschloss, durften die Nachbarn den plötzlichen Richtungswechsel allenfalls noch zur Kenntnis nehmen. Ein Wort mitzureden hatten sie nicht, denn die Energieversorgung ist in der EU in weiten Teilen Sache der Mitgliedsländer. Dass die Europäer in Zukunft trotzdem in Energiefragen deutlich näher zusammenrücken, könnte die erste langfristige Folge der Ukraine-Krise sein. Seit der polnische Ministerpräsident Donald Tusk für diesen Integrationsschritt das Schlagwort der "Energieunion" in die Debatte eingebracht hat, nimmt die Diskussion über eine größere Unabhängigkeit von russischen Öl- und Gasimporten deutlich an Fahrt auf.
Tusk hatte unter anderem gemeinsame Lieferverträge der Europäischen Union mit dem russischen Gazprom-Konzern ins Spiel gebracht, aber eine Energieunion könnte auch deutlich weiter gehen. Guntram Wolff, Leiter des Brüsseler Thinktanks Bruegel, denkt an großflächige Investitionen in die europäische Energieinfrastruktur: "Man würde etwas schaffen, was im europäischen Interesse ist." Für Wolff lassen sich damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Das Projekt sei für Europa sinnvoll und ein geeignetes Symbol für das Ende der Sparpolitik. Womöglich könne man auf diese Weise die Bürger beim "Projekt Europa wieder mitnehmen".
Stärkere Integration als Kampfansage an Moskau
Zustimmung für eine Energieunion erfährt Donald Tusk nicht nur von Experten und den wahlkämpfenden europäischen Parteien, sondern auch von zahlreichen Staats- und Regierungschefs. EU-Energiekommissar Günther Oettinger will ihnen beim EU-Gipfel im Juni erste Pläne für ein Projekt "Energieunion" unterbreiten. Möglicher Inhalt: ein Ausbau europäischer Gasnetze und ein europaweiter Einheitspreis für russisches Gas.
Für Jan Techau, Leiter der Denkfabrik Carnegie Europe, steht fest, dass die Ukraine-Krise vor allem im Energiebereich zu einer stärkeren Integration führen wird: "Das führt vielleicht noch nicht gleich zu einer einheitlichen Energiepolitik, aber auf jeden Fall zu einer massiven Investition in weniger Abhängigkeit von Russland."
Der EU-Experte erwartet aber nicht nur in der Energiepolitik langfristige Veränderungen als Folge der Ukraine-Krise. Der Konflikt mit Russland habe auch deutlich gezeigt, dass die "Nachbarschaftspolitik der EU völlig abgewirtschaftet hat". Die Illusion der Europäer, dass man in der östlichen Nachbarschaft Kooperationen vereinbaren könne ohne Gegendruck zu erzeugen, die sei nun verschwunden. In Zukunft dürfe Brüssel die Nachbarschaftspolitik nicht mehr als rein "technisches Projekt" behandeln, sondern müsse sie stärker als geopolitisches Vorhaben begreifen. Europa werde sich also in der Folge der Ukraine-Krise, so Techau, viel stärker mit klassischer Machtpolitik auseinandersetzen müssen. "Die Russen haben uns gerade gezeigt, dass Machtpolitik, Stärkepolitik, militärische Bedrohungen und Erpressungen und all diese Dinge, dass das Instrumente der Politik sein werden."
Rückkehr des Militärischen
Eine militärische Konfrontation in der Nachbarschaft und eine Bedrohung der eigenen Grenzen - für viele EU-Bürger kommt diese Erfahrung völlig überraschend. Tatenlos zusehen können die EU-Staaten zwar nicht, doch von einer gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist seit Ausbruch der Krise trotzdem kaum etwas zu hören. In den Parteiprogrammen der großen Volksparteien zur Europawahl finden sich zwar Andeutungen zum Aufbau einer Europäischen Armee. Der Spitzenkandidat der europäischen Liberalen, Guy Verhofstadt, wirbt im Europawahlkampf sogar offensiv für diese Kompetenzverlagerung. Doch EU-Experte Techau ist skeptisch: "Das ist ein Traum, der auf ganz lange Zeit nicht realisierbar sein wird." Im Gegenteil: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zählt für ihn zu den Verlierern der Ukraine-Krise. "Die NATO hat den Energieschub abbekommen, aber nicht Europa."
Der Blick auf den Verlauf der Krise verdeutlicht diese Einschätzung. Die Luftraumüberwachung über dem Baltikum übernehmen Kampfjets der NATO - im Zuge der Krise hatte das Bündnis ihre Anzahl deutlich erhöht. Und natürlich ist es allen voran die NATO-Vormacht USA, die den Staaten in Osteuropa am Ende Schutz vor Russland garantiert.
Sicherheit, Abschreckung, militärische Präsenz: Nicht überall in Europa werden diese Fragen derzeit ähnlich sorgenvoll diskutiert, wie in den Staaten des Baltikums. "Man sieht in der Krise, dass es teilweise sehr schwierig ist, die vielen unterschiedlichen Vorstellungen, geostrategischen Erwägungen und historischen Erfahrungen innerhalb der EU unter einen Hut zu bringen", analysiert Janis Emmanouilidis, Direktor des European Policy Centre in Brüssel. Im Moment spreche Europa zwar weitgehend mit einer Stimme, aber je länger der Konflikt andauere, desto schwieriger werde es sein, diese Einigkeit zu bewahren.
Eine neue Spaltung Europas
Was Emmanouilidis anspricht, ist die unterschiedliche Bedrohungswahrnehmung in der EU. Während Balten, Polen und Skandinavier sich große Sorgen um ihre Sicherheit machen und es dort in der Öffentlichkeit spürbare Angst vor Russland gibt, sind Deutsche, Niederländer oder Franzosen deutlich entspannter - ganz zu schweigen von der Bevölkerung der Mittelmeer-Anrainer. Für Jan Techau ist nach dem Irak-Krieg 2003 eine neue Teilung Europas deutlich zu spüren: heute allerdings vor allem zwischen dem Osten und Süden des Kontinents. Dabei gehe es nicht nur um gefühlte Bedrohungen, sondern um handfeste finanzielle Interessen: “Die EU gibt in ihrer Nachbarschaftspolitik etwa zwei Drittel der Hilfsgelder für den Süden aus, ein Drittel für den Osten. Die Mittelmeeranrainer Spanien, Italien und Griechenland wollen nicht, dass Geld aus dem Mittelmeerraum abgezogen wird, um den Osten zu unterstützen.“
Für Deutschland ist diese Spaltung eine große Bürde. Mit seiner engen wirtschaftlichen und politischen Anbindung an Russland ist es für Berlin jetzt besonders schwer umzusetzen, was Bundespräsident und Bundesregierung noch Anfang des Jahres betont haben: außenpolitischen Führungswillen. Jan Techau: "Deutschland muss führen, Ruhe ausstrahlen, muss den östlichen Partnern Sicherheit vermitteln. Das fällt den Deutschen schwer, die immer eine kleine 'Russlandschwäche' haben und die man deswegen auch beäugt." Doch Berlin, so sehen es viele Partner, laviert, sendet unterschiedliche Signale und gibt damit ein anderes Bild als mit seiner konsequenten Haltung in der Eurokrise. "Die Kanzlerin steht noch relativ stark da, aber in einem deutschen, sehr skeptischen Umfeld, das den Konflikt mit Russland um jeden Preis vermeiden möchte. Und das verträgt sich nicht mit den europa- und bündnispolitischen Verpflichtungen." Deutschland könnte durch seine wirtschaftspolitischen Verflechtungen mit Russland am Ende also nicht nur der ökonomische Verlierer der Ukraine-Krise werden, sondern auch noch an politischem Einfluss in der Europäischen Union verlieren.